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Leben in Luxor Autorenforum: Golo – der französische Ägypter von al-Gurna

von Hans Mauritz (2012)

 

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Golo, © Rico ShenVon den deutschsprachigen Bewohnern von Luxor-Westbank wissen wohl nur wenige, dass in ihrer Nachbarschaft ein Künstler lebt, den man als Karikaturisten und Comiczeichner in Frankreich und in der kulturellen Szene von Kairo kennt und schätzt. Golo beobachtet seine europäischen Mitbewohner amüsiert und maliziös, aber er mischt sich wenig in ihr gesellschaftliches Treiben und pflegt wohl lieber Umgang mit den Einheimischen (1). Er scheint nicht sonderlich erpicht auf neugierige Besucher, erzählt nicht selbstverliebt von seiner Karriere, wirkt eher wortkarg und scheu. An Gurna schätzt er, dass er hier viel ungestörter eintauchen kann in ein arbeitsintensives Projekt, als das in der Grossstadt möglich wäre. Sein Haus liegt unterhalb des Ramesseums, so versteckt zwischen Bauernhöfen und Zuckerrohrfeldern, dass es gar nicht leicht zu finden ist. Es ist nach Entwürfen Golos im traditionellen Stil erbaut, sehr spartanisch eingerichtet und hebt sich damit wohltuend ab von den Prunkbauten, mit denen andere Europäer die Westbank „verschönern“.

Im Jahre 1948 als Guy Nadaud in der Stadt Bayonne im Südosten Frankreichs geboren, ist Golo 1973 zum ersten Mal nach Kairo gekommen - fast zufällig, weil er vom Unternehmen, bei dem er damals arbeitete, einen Gratisflug erhielt. Der junge Mann, den zuvor die marokkanischen Königsstädte fasziniert hatten, versprach sich von Kairo nichts Besonderes. Aber das Erstaunliche geschieht: Er ist von dieser Stadt so sehr „gepackt für alle Zeiten“, dass er immer wieder zurückkehrt und sich im Jahre 1993 ganz dort niederlässt.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Ägyptische Künstler, Karikaturisten und Comiczeichner, weihen ihn ein in die Geheimnisse der Stadt, und die Zeitschrift „Sabah al-Kheir“ veröffentlicht seine Karikaturen. Der junge Golo, so wie er sich in seinen „Comics“ zeichnet, ein Hippie mit wirren langen Haaren und erstauntem Blick, wandert durch die Gassen der Altstadt und dringt immer tiefer ein in deren Labyrinth. „Ich verschlang Kairo Zeichenblock um Zeichenblock.“ „Erst durch dieses Land habe ich das Zeichnen zu meinem Beruf gemacht.“ Er ist ständig auf der Lauer und macht Jagd auf die „Wunder der Strasse“: sonderbare Gestalten und unerwartete, oft groteske Ereignisse. So entstehen im Lauf der Jahre mehrere Alben (2): Keine Comics im herkömmlichen Sinn, eher gezeichnete Reportagen, Chroniken und Romane, und immer ist der Text genauso wichtig wie die Zeichnung. Diese Texte sind teils poetisch, teils sarkastisch und stets Frucht genauer Beobachtung und minutiöser Dokumentation. Wer Golo liest, lernt viel über Ägypten, sein Volk, seine Geschichte und Kultur.

Im Jahre 2001 lässt sich der Künstler in al-Gurna nieder, einem Dorf auf der Westbank gegenüber von Luxor, dessen Gräber und Tempel Jahr für Jahr von Millionen von Touristen besucht werden. Golos Abschied von Kairo - aber Jahr für Jahr kehrt er dorthin zurück – verlief nicht ohne Resignation und Melancholie. „Vor dreissig Jahren war Kairo eine Stadt, in der sich leben liess, eine menschlichere Stadt, deren Viertel den Leuten gehörten. Aber heute wird der Raum der Menschen mehr und mehr von der Maschine aufgefressen.“ Die neue „liberale“ Wirtschaftsordnung, die zunehmende Armut und die neue von ägyptischen Emigranten aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten importierte „islamistische“ Art, die Religion zu praktizieren, haben das Leben verändert.

Golo & Dibou: Chroniques de la NécropoleNach den Alben über Kairo, die man „Chroniques de la Métropole“ nennen könnte, sind vor wenigen Wochen die [Anzeige]Chroniques de la Nécropole“ (3) erschienen, ein erzählter, gezeichneter und fotografierter Bericht über die Jahre, die Golo und seine Lebenspartnerin in Oberägypten verbracht haben [inzwischen auch auf Deutsch erhältlich u.d.T.: [Anzeige]  "Chronik einer verschwundenen Stadt", Anm. d. Red.] Diese autobiographische Erzählform mag den Leser erstaunen, der einen Comic in „klassischer“ Manier erwartet. Aber Golo bleibt dem Bestreben nach Authentizität treu, das bereits seine zwei Alben „Mes 1001 nuits au Caire“ gekennzeichnet hat: „Ich habe immer Dinge gezeichnet, die einen Bezug Golo & Dibou: Chronik einer verschwundenen Stadthatten zu meinem eigenen Leben.“ Im neuen Album ist es vor allem Dibou, seine Partnerin, die spricht. Golo, der den Ort von früheren Reisen kennt, steuert historische, soziologische und mythologische Fakten und Erläuterungen bei. Dibou schildert, wie sie eine neue Welt entdeckt. Die gut verdienende, aber gestresste Marketingspezialistin aus Paris lernt von den Oberägyptern, dass Sein wichtiger ist als Haben und Machen. Sie lernt, im Augenblick zu leben, nur zu tun, was ihr gefällt, und als sie ihren 50. Geburtstag feiert, beschliesst sie, die Null aus dieser Zahl wegzulassen und wieder wie ein Kind zu werden.

Die beiden wohnen zunächst im alt-ehrwürdigen al-Marsam-Hotel, und so hat der Leser das Vergnügen, dessen exzentrische Gäste zu erleben und die bizarren Geschichten, die sich dort ereignen. Golos Alben sind immer voll von gezeichneten Witzen und Anekdoten. Der Humor der Ägypter hatte bereits den Neuankömmling beeindruckt.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Diese Menschen hören und erzählen leidenschaftlich gerne Witze, ja, sie scheinen Zeitungen in erster Linie zu kaufen, um sich an den Witzen und Karikaturen zu ergötzen. Ihr Humor ist eine Art Lebensweisheit: Er hilft ihnen, innerlich Abstand zu gewinnen zu den Widrigkeiten ihres Lebens. Golos Alben sind voll von gezeichneten Anekdoten über Nasser, Sadat und Mubarak, und das ist wohl der Grund, warum seine Werke mehrmals von der staatlichen Zensur beschlagnahmt wurden.

© Golo & Dibou: Chroniques de la NécropoleGolo ist voll von Sympathie für die Ägypter, vor allem für die einfachen Leute aus dem Volk. Er liebt auch die Aussenseiter, die Exzen-triker und Verrückten, die auf der Bühne des Lebens diese Rolle spielen, weil man so am besten der absurden Wirklichkeit Paroli bieten kann. Ein solcher Mensch war Scheich Ali, berühmter Assistent der Archäologen und Herrscher über das Marsam-Hotel, der mit seinen bösen Streichen und närrischen Auftritten so manchen Gast erschreckt hat.

Ali gehörte zur Sippe der Abd al-Rassoul, die als Grabräuber berühmt und berüchtigt sind. Der Hügel von Gurna war seit alters her Zufluchtsort für Ausgestossene und Verfolgte, die vor Hungersnot und Zwangsrekrutierung, vor den Soldaten und Steuereintreibern des Regimes davongelaufen sind und in den Gräbern und Höhlen ein sicheres Versteck fanden. Weil eine ihrer Ziegen in einen tiefen Schacht gefallen ist, finden die Abd al-Rassouls den Zugang zu einer Galerie, in der die Pharaonen Dutzende von Särgen versteckt hatten. Jahrelang hat die Familie ihr Geheimnis bewahrt. Die Reputation, Grabräuber zu sein, haftet ihnen noch heute an. Sie stehen dazu und sind stolz darauf, denn es ist ehrenwerter, Räuber zu sein als elender Fellache.

Was Dibou und Golo fasziniert, ist das Fortbestehen des längst Vergangenen im Leben der Dorfbewohner. Die Erntearbeiter von heute gleichen jenen auf den Fresken der pharaonischen Gräber, und wenn die Gurnawwis in einem Trauerzug ihre Toten zum Friedhof begleiten, erinnert das an die Prozessionen der Priester im alten Ägypten. Sayyed al-Magnun, der beste Kunsthandwerker des Dorfes, ist direkter Erbe der Handwerker von Deir al-Medina. Golo erinnert sich, dass der greise Scheich Ali so tat, als seien die Erbauer der Tempel seine Nachbarn von heute, und ganz im Geist des antiken Jenseitskultes rief er aus: „Ich bin so alt, dass ich die ewige Jugend erlangt habe.“

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Der Zeichner Golo lässt sich mehr und mehr inspirieren von der Welt der alten Ägypter. Er erinnert sich an die Zeit, als er als junger Mann zum ersten Mal den Habou-Tempel besuchte, in Begleitung eines Professors, der die Hieroglyphen las wie ein offenes Buch: „ein Buch, in dem Text und Zeichnungen eins werden. Dieser Tempel ist ein wahrhafter Comic.“ In seinen Zeichnungen und Karikaturen vermischt Golo nun die Epochen, bringt die Leute von heute in ein und dasselbe Bild mit den Menschen von einst. Wenn Dibou vom Spaziergang erzählt, der die beiden von Deir al-Medina hinauf zum Tal der Könige führt, sehen wir sie wenige Meter hinter den Arbeitern und Handwerkern wandeln, die einst diesen Weg zu gehen pflegten. Für seine Ausstellungen in Kairo hat Golo mehrmals dieses Thema gewählt: Menschen von heute treffen auf die © Golo & Dibou: Chroniques de la NécropoleGötter und Dämonen von einst. Und weil ihn dieses Thema so beschäftigt, zeichnet er sich selbst als einen von schlimmen Alpträumen Geplagten, weil die Kompo-nenten seines Ich, Ka (die Lebensenergie), Shouyt (der Schatten, die dunkle Seite des Menschen) und Ba, die Seele, in Streit und Rauferei geraten, während dem schnarchenden Schläfer nur noch die Rolle der „Verpackung“, der sterblichen Hülle, bleibt. Zum Glück ist da noch Bes, der „blaue Zwerg“, der Gott der Wege, welcher die Schwelle hütet zwischen Bewusstsein und Traum und verhindert, dass sich die Kräfte des Unbewussten in Form von Alpträumen allzu sehr des Schlafenden bemächtigen.

Beeindruckend sind die Zeichnungen, die für eine Ausstellung gemacht waren, die Golo im November 2001 unter dem Titel „Embarquement immédiat“ („Letzter Aufruf zum Flug...“) in der Galerie Town House in Kairo präsentiert hat. Auf ihnen wird der Karnak-Tempel zum Flughafen, das Flughafenpersonal wird von den Figuren der altägyptischen Mythologie gestellt, und die Horden von Touristen eilen aufgeregt zum Ausgang, weil der Lautsprecher die Verladung der Passagiere zur Reise ins Jenseits verkündet. Die Ägypter dagegen, die Gurnawwis, werden nicht durchgelassen, sondern als Ausweislose festgenommen und in die Wüste deportiert. Als Golo bei der Leibesvisitation an der Reihe ist, ertönt eine Sirene: der Wecker, der den Schlafenden aus seinem Alptraum erlöst.

Die Präsenz der Touristen in ihrem Dorf hatten Golo und Dibou zunächst mit Fassung hingenommen. „Wenn man die Touristen nicht sehen will, sieht man sie nicht.“ Sie bieten dem Zeichenstift des Karikaturisten zudem ein willkommenes Sujet für Spott und Satire: ihre unförmigen, halb nackten Körper, schwitzend und keuchend, in den Händen ihre Insignien - Kamera und Mineralwasserflasche. Sie fotografieren vor allem, was der Reiseleiter ihnen befiehlt, und nach dem Besuch der antiken Stätten führt man sie in ein „Atelier“, wo sie das verlogene Schauspiel einer Handwerkskunst geniessen, die längst verschwunden ist: Zu kaufen gibt es nur den Ramsch aus ausländischer Massenproduktion. Gut abgeschirmt bekommen sie vom wirklichen Leben in Ägypten so gut wie gar nichts mit. „Sie glauben im Urlaub zu sein und zu einer wohlhabenden und kultivierten Elite zu gehören, zu einer überlegenen Zivilisation, die Technik, Raum und Zeit beherrscht. In Wirklichkeit sind sie Proletarier, die sich abschuften im Dienst der Tourismus-Industrie.“

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Ein anderes Opfer des Karikaturisten und Satirikers sind die „lustigen Witwen“, jene europäischen Frauen, die sich auf der Westbank niederlassen, weil sie ihr Herz an einen Ägypter verloren haben. „In Europa waren sie arm, hier sind sie reich“, sagt der Dorfarzt, „sie waren alt und von niemandem beachtet, hier sagen ihnen junge Männer mit glühenden Augen, dass sie schön sind. Was will man mehr?“ Ganz so lustig und glücklich scheinen diese Frauen aber nicht zu sein. Sie treffen sich in einer Art Club, um sich gegenseitig ihr Leid zu klagen. Was tun, wenn es mit der Partnerschaft dann doch nicht klappt? „Ich bring’ mich um!“, droht die eine, die zweite konvertiert und macht sich das Motto der ägyptischen Moslembruderschaft zu eigen („Der Islam ist die Lösung“), die dritte ist realistisch und geschäftstüchtig, wenn sie rät: „Investieren Sie in ein Hotel und bringen Sie den jungen Mann zum Arbeiten!“ In einer anderen Sequenz sehen wir die Ehemänner dieser „lustigen Witwen“, die sich zum Saufgelage treffen und mit ihren Errungenschaften prahlen: Das reicht von der Villa mit Klimaanlage und Grossbildfernseher bis zum Geländewagen, zum Autobus und zum Hotel.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Der Tourismus bestimmt das Leben in Gurna mehr und mehr. Das Tal der Könige ist zum Jahrmarkt verkommen, und schon vor Sonnenaufgang verfrachten Minibusse die Touristen aufs Land hinaus, wo sie in Heissluftballons verladen werden und in die Lüfte steigen. Die Kunstgalerie, die Dibou und Golo bei den Gräbern der Adligen eröffnet haben, wird von den gehetzten Touristen kaum beachtet, zumal die beiden sich weigern, den Fremdenführern die übliche „Kommission“ zu zahlen. Das Frühjahr 1999 bringt den ersten Luxor-Marathon, Marketing-Aktion und Teil jener von langer Hand geplanten Strategie, mit welcher man das Dorf zerstören will.

Dibou aber hat eine Aufgabe entdeckt, der sie sich mit Golos Unterstützung widmet. Eines Tages, als sie bei ihren Spaziergängen von den bettelnden Kindern allzu sehr geplagt werden, kommt sie auf die Idee, die Kinder in Porträtaufnahmen abzulichten. Ein Zwischenfall, der Folgen hat: „Etwas war passiert zwischen den Kindern und mir.“ Sie organisiert einen Wettbewerb: Wer bastelt aus Stoffresten die schönste Puppe? Wer malt das schönste Schiff? Die Preisverleihung findet im Beisein der Dorfbevölkerung im Rahmen einer Ausstellung statt. Zum ersten Mal gibt es in Gurna eine Ausstellung nicht für Touristen, sondern für die Einheimischen selbst.

Wenig später richten Dibou und Golo in ihrem Haus ein Atelier ein. Jeden Freitag kommen im Durchschnitt 80 Kinder und malen, zeichnen oder nähen vier Stunden lang. Sie fertigen Perlenketten an oder Marionetten aus Pappmaché, sie lernen tanzen und fotografieren. Auf einer riesigen Leinwand malen sie ihr Dorf oder fotografieren ihr tägliches Leben. Golo und Dibou organisieren Ausflüge zu den Gräbern, welche die Kinder noch nie besucht haben. So lernen sie nicht nur Ordnung zu halten und das Material sorgfältig zu behandeln, sondern erlangen ein klareres Bewusstsein über ihr Leben und ihre Umwelt. Kein Wunder, dass manche der Mädchen, wenn sie älter werden, arbeiten und selbständig sein wollen.

Kurz bevor aus der Bedrohung, die seit langem auf dem Dorf lastet, eine Katastrophe wird, evozieren Golo und Dibou die „Geräusche und Stimmen von Gurna“: das Lachen der Kinder, das Singen der Vögel, die Stimmen der Tiere, der Wind in Palmen und Zuckerrohr, das Psalmodieren, das drei Tage lang ertönt, wenn jemand aus der Nachbarschaft gestorben ist. Die letzten Seiten des Albums aber sind voll von Sarkasmus und Verbitterung, und Golos Zeichnungen machen Dibous Fotografien Platz, so als übersteige die Tragik des Geschehens die Möglichkeiten des Zeichners und des Karikaturisten. Schon im Jahre 2000 liess die Regierung das erste Haus abbrechen, Signal für den Beginn von Zerstörung und Deportation. Später lässt sie Soldaten mit Zisternenwagen im Dorf die Runde drehen, um ihren stinkenden Inhalt auszugiessen. Die antiken Stätten werden mit Stacheldraht abgesperrt und die Kinder vertrieben, wenn sie ihre Puppen an die Touristen verkaufen wollen. Den verbliebenen Bewohnern wird der Strom abgestellt. Die Bulldozer beginnen, die Häuser abzubrechen, und die Bewohner werden gezwungen, nach Neu-Gurna umzuziehen, eine vom Militär aus dem Boden gestampfte Stadt am Rande der Wüste: Häuser, so weit das Auge reicht, alle gleich aussehend, und mit winzigen Wohnungen, völlig unangemessen für die meist kinderreichen Familien. Ihre Tiere, unabdingbar für ihren Lebensunterhalt, dürfen die Bauern nicht mitnehmen. Ins Atelier kommen immer weniger Kinder, denn Neu-Gurna ist weit entfernt, und der Transport für sie nicht zu bezahlen.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Das staatliche Fernsehen hatte die Eröffnung des neuen Dorfes in den höchsten Tönen gefeiert, mit singenden Mädchen in pharaonischen Gewändern - nicht einheimische Mädchen, sondern eigens von auswärts rekrutierte - , Interviews mit ausgewählten Gesprächspartnern – Familien, die dem Regime nahe standen - und mit Bildern von schön eingerichteten Wohnungen und Kinderspielplätzen. Aber der Möbelwagen der Firma, von welcher die Möbel nur ausgeliehen waren, wartete bereits auf das Ende der Zeremonie, und die Spielgeräte waren schnell verschwunden, wer weiss wohin.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Die Zerstörung des Dorfes und Umsiedlung seiner Bewohner war seit 1948 mehrmals versucht worden, aber 60 Jahre lang hatten die Gurnawwis sich gewehrt. Der Vorwurf, den Archäologen und Behörden ihnen machten, lautete, ihre Abwässer beschädigten die Gräber, auf denen sie ihre Häuser errichtet hatten (4), Golo aber ist überzeugt davon, dass man das Abwässer-Problem auf einfache Weise hätte beheben können (5): „Der Massentourismus hat in 20 Jahren mehr Schaden angerichtet als die Bewohner von Gurna in zwei Jahrhunderten.“ Er geht soweit, die Deportation von über 300 Familien einen „wahren Ethnozid“ (6) zu nennen und die Ruinen, welche die Bulldozer hinterlassen, erinnern ihn an zerbombte Dörfer im Irak.

Wenn die beiden Franzosen ihre Freunde in der neuen Siedlung besuchen, sehen sie ein ganz anderes Bild als jenes, das die staatlichen Medien verbreitet haben. Das einzig Gute hier, sagen die Frauen, ist das fliessende Wasser, das aber auch nur stundenweise aus der Leitung fliesst. Da die neue Siedlung auf Wüstensand gebaut ist, zeigen sich Risse in den Wänden, und die ersten Häuser sind schon eingestürzt. Die Leute, die wie alle Oberägypter in Sippen zusammengewohnt hatten, sind nun von Unbekannten umgeben, fühlen sich wie Fremde im eigenen Land, und die Familiensolidarität, so wichtig für die Armen, ist zerstört.

Auf der vorletzten Seite ihrer Chronik ziehen Golo und Dibou eine bittere Bilanz: „Das Dorf Gurna, das einzigartig war in Ägypten, ist nicht mehr. Das Leben ist daraus verschwunden. Die alte Nekropole, die immer ein Ort des Lebens, der Arbeit und der Kreativität gewesen war, ist zu einer Stätte des Todes geworden und zu einem Kulturspektakel: zum grössten Freilichtmuseum der Welt.“ (7) Auf der letzten Seite sehen wir zwei Fotos, welche dieselbe Ansicht zeigen: oben das alte Dorf mit seinen malerischen Häusern, unten der nackte Sandhügel, auf dem man immer noch ein paar Ruinen der zerstörten Häuser erkennt. Das (vorläufige?) Ende der grossen Offensive kommt im Jahre 2010: Die Marketingstrategen lassen den heiligen Berg verkabeln, um ihn Nacht für Nacht zu illuminieren. Die Touristen, die an der Corniche von Luxor promenieren, erleben nun ein grandioses Lichtspektakel. Den Nachthimmel über Gurna aber sieht kaum jemand mehr.

© Golo & Dibou: Chroniques de la Nécropole

Weil Golo sich auf Gurna und die Westbank konzentriert, erfährt der Leser nicht, was gleichzeitig in Luxor passiert: Dieselbe Zerstörung ganzer Stadtviertel, dieselbe Zwangsdeportation in Siedlungen weit ausserhalb der Stadt, mit demselben Ziel: Luxor weitgehend vom einfachen ägyptischen Volk zu räumen und in ein riesiges Ferienparadies und Freilichtmuseum zu verwandeln (8). Weil Golo sein Manuskript abgeschlossen hatte, blieb auch kein Raum für das, was sich im Frühjahr 2011 ereignet hat: Der Sturm der Revolution hat die Verantwortlichen - den Gouverneur von Luxor, den Tourismus-, den Wohnungsbauminister und viele andere - hinweggefegt. Sie sind ihrer Ämter enthoben, stehen unter Hausarrest oder warten im Gefängnis auf ihren Prozess. Die Touristen sind weggeblieben und kehren erst ganz spärlich zurück. Wie es mit Luxor und al-Gurna weitergeht, wissen die antiken Götter und Dämonen...



Anmerkungen:

(1) Zusätzliche Informationen zu denen, die Golo in seinen Büchern über sein Leben und Denken gibt, stammen aus Olivier Bonnel „Les Vigies du Nil“, „Lonely Planet“ 2007, aus einem Artikel von Louise Sarant in Al-Ahram Hebdo, 23.-29.04.2008 und aus Gesprächen des Schreibenden mit dem Künstler.
(2) Golo-Cossery: „Mendiants et Orgueilleux“, éd. Casterman 1991;
     Albert Cossery et Golo: „Les Couleurs de l’Infamie“, éd. Dargaud, 2003;
     „Carnets du Caire, Samir“, éd. Les Rêveurs, 2003;
     „Carnets du Caire, tome 2: Goudah“, ebd. 2006;
     „Mes mille et une Nuits au Caire“, éd. Futuropolis, 2009;
     „Mes 1001 Nuits au Caire“, (deuxième époque), ebd. 2010
(3) Golo et Dibou: „Chroniques de la Nécropole“, éd. Futuropolis, 2011
(4) Zahi Hawass, Generaldirektor des SCA, der obersten Aufsichtsbehörde über die antiken Stätten, konstatiert nach dem Abbruch der Häuser mit Befriedigung: „Ein Traum geht in Erfüllung: die Archäologie ist dabei, ihre Rechte zurückzugewinnen.“ Mohammed al-Tayeb, eine der einflussreichsten politischen und religiösen Instanzen des Dorfes, betont: „Diese Umsiedlung war nötig, denn unter den Häusern liegen 1000 pharaonische Gräber, die vom Eindringen der Abwässer beschädigt werden. Vom illegalen Verkauf dieser Gräber ganz zu schweigen.“ Und als die Journalistin ihn anspricht auf die winzigen Ausmasse der neuen Häuser, sagt er: „Diese Leute sind einfach habgierig.“ (Al-Ahram Hebdo, 06.-12.12.2006)
(5) Nicht alle Archäologen sind einverstanden mit dieser radikalen Lösung. Christian Leblanc, Leiter der französischen archäologischen Mission in Theben-West, empfiehlt Kompromisslösungen, welche die jahrhundertalte Koexistenz des Vergangenen und des Gegenwärtigen bewahren. (Al-Ahram Hebdo, 15.-21.06.2005). Elinna Pauline, eine finnische Archäologin, meint: “Nach meiner Ansicht hätten die Archäologen ihre Arbeit beginnen können in Anwesenheit der Bewohner. Es würde reichen, nur die Häuser zu zerstören, unter denen es Gräber gibt. Lasst doch die Bewohner in Frieden leben! Sie sind es ja, ihre Arbeit und ihre Lebensweise, welche diese Gegend für die Touristenso attraktiv machen.“ (ebd., 06.-12.12.2006)
(6) „Ethnocide: Destruction de la civilisation d’un groupe ethnique par un autre groupe plus puissant“, Petit Robert, Dictionnaire de la langue française
(7) Der amerikanische Archäologe Kent Weeks: „Der Tourismusminister rechnet mit täglich 25000 Besuchern in den nächsten zehn Jahren. Wenn die Regierung diese Zahl erreichen will, muss sie für die Besucher neue Gräber öffnen.“ (Al-Ahram Hebdo, 21.-27.09.2005)
(8) Stefan Gerke: „Luxor - Aufbruch statt Abbruch“, (Papyrus-Magazin, 4/2011, pp. 37-40)

 

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