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Leben in Luxor Autorenforum: Salim erzählt vom Mond II - Die Revolution

von Astrid Kühnemann (2011)

 

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Einleitung von Astrid Kühnemann - wer ist Salim?

Zurück zu Salim erzählt vom Mond I - Zu Hause

1. Blockaden

„Ah, da bist du ja, Yassien“, sagt Mama, als sie ihm die Tür öffnet. „Ich bin stolz auf dich, dass du schon allein von der Schule nach Hause gehen kannst!“
Yassien lacht. Dann sagt er: „Mama, auf der Straße sind ganz viele Soldaten. Und zum Militärmuseum darf man nicht gehen.“
„Wie meinst du das?“ Mama guckt Yassien fragend an. „Auf der Straße hier sind immer Soldaten. Sie sind am Abdin-Palast stationiert, das weißt du doch.“
„Ja, aber sie sind überall. An allen Straßenecken stehen welche.“
„Hm“, macht Mama. „Und die Straße zum Museum ist gesperrt?“
„Ja“, sagt Yassien. „Dort haben sie einen Panzer hingestellt. Er versperrt den Weg. Du kannst es von der Dachterrasse sehen. Warum tun sie das, Mama?“
„Die Soldaten sollen darauf achten, dass nichts passiert.“
„Aber was soll denn passieren?“ Yassien versteht nicht, was Mama meinen könnte.
Mama setzt sich auf einen Küchenstuhl und sagt:
„Komm, setz dich mal zu mir, Yassien. Ich muss dir etwas erklären, was sehr schwierig ist. Ich wünschte, Papa wäre da, aber er kommt erst am Donnerstag aus Luxor zurück. Also, ich versuche es, so gut ich es kann.
Du weißt doch, dass man Briefe nicht nur mit der Post verschicken kann, sondern auch über das Internet, nicht?“
Yassien nickt ungeduldig. Natürlich weiß er das und auch, dass die Internetbriefe E-Mail heißen. Es ist Englisch und bedeutet elektrische Post. Was hat es mit den Soldaten zu tun?
Mama spricht weiter.
„Viele Menschen in Ägypten haben in den letzten Tagen Internetbriefe bekommen. In denen stand, dass heute, am 25. Januar, alle abends auf den midan et-TaHrir, den Platz der Befreiung, gehen sollen. Sie sollen so zeigen, dass sie nicht mehr damit zufrieden sind, wie unser rais, unser Präsident, für uns und unser Land sorgt.“
Yassien ist erstaunt.
„Der rais sorgt nicht mehr gut für uns? Warum denn nicht?“
„Er entscheidet Dinge, die uns arm machen, so dass viele Menschen nicht genug zu essen haben“, erklärt Mama. „Er gibt seinen Freunden immer mehr und für uns andere bleibt zu wenig übrig, obwohl wir schwer arbeiten. Deshalb sind auch so viele Löcher in den Straßen und in der Schule stehen ganz alte Tische und Bänke.“
„Weil der rais nicht für uns sorgt?“
„Er soll eigentlich wie ein Vater für alle Ägypter sein, weißt du, aber das scheint er vergessen zu haben.“ Mama schüttelt den Kopf.
„Ja, aber warum sind jetzt die Soldaten auf der Straße, Mama?“
„Der rais hat sie geschickt.“ Mama sieht ein bisschen ängstlich aus.
Yassien versteht immer noch nicht, was die Soldaten tun sollen.
„Aber Mama, Soldaten haben Kanonen und Panzer. Sie schießen damit auf die Feinde, die unser Land angreifen. Das steht in einem Buch, das Ali gelesen hat. Wir sind doch keine Feinde. Oder, Mama?“
„Nein, wir sind keine Feinde. Wir wollen nur, dass es unserem Land und uns gut geht. Der rais hat das aber nicht verstanden. Er hat Angst bekommen und will, dass die Soldaten aufpassen, dass die Menschen, die auf den midan et-TaHrir gehen, sich friedlich verhalten.“
„Aha.“ Yassien nickt nachdenklich. Dann fragt er: „Gehen wir auch auf den midan? Ich möchte so gern sehen, ob die Menschen wirklich hingehen, weil das Internet es will!“
„Nein, Yassien“, sagt Mama. „Wir bleiben zu Hause. Die Demonstration, so heißt es, wenn viele Menschen dem rais zeigen, dass sie nicht mit seiner Regierung einverstanden sind, findet heute Abend statt. Zu der Zeit, in der du ins Bett gehst, damit du morgen in der Schule ausgeschlafen bist. Außerdem ist es mir zu gefährlich, dich dabei zu haben, wenn wirklich viele Leute unterwegs sind.“
Sie gibt ihm einen kleinen Klaps auf die Schulter.
„Jetzt essen wir und anschließend machst du Hausaufgaben. Hast du viel auf?“

Den ganzen Nachmittag über ist Yassien beschäftigt. Er erledigt seine Hausaufgaben. In Mathematik soll er die Sechserreihe des kleinen Einmaleins lernen. Danach verbessert er seine Fehler im Diktat und schreibt einen Lückentext in Englisch ab, in den er die fehlenden Worte einsetzen soll. Das ist nicht sehr schwer und Mama sagt, dass sie sich darüber freut, wie gut er mit dem Lernen zurechtkommt.
Später darf er für eine Stunde zu Tarek, seinem besten Freund, zum Spielen gehen. Tarek wohnt gleich nebenan.

Beim Abendessen erzählt auch Ali, Yassiens großer Bruder, von den Straßenblockaden und den Soldaten. Er ist gerade vom Fußballtraining aus Doqqi gekommen und sagt: „An der Brücke über den Nil stehen Polizisten auf beiden Seiten und in den Nebenstraßen auch. Es scheint ordentlich etwas los zu sein.“
„Ja“, sagt Mama, „das mag sein, aber ich will jetzt nicht darüber sprechen. Wir werden essen und dann geht Yassien ins Bett.“
„Und was macht ihr dann?“, fragt Yassien empört.
„Wir schauen uns die Nachrichten an und morgen erzähle ich dir, was gewesen ist.“ Mamas Stimme klingt sehr bestimmt.
„Das ist gemein! Ich will auch die Nachrichten sehen!“
„Nein, du gehst schlafen. Jetzt.“
Yassien ärgert sich. Maulend geht er ins Bad und dann in sein Bett. Mama gibt ihm einen Gutenachtkuss und macht die Tür hinter sich zu.
Yassien schließt die Augen.
„Guten Abend, Salim! Bist du da? Salim?“ Salim ist Yassiens Trost heute. Er wird ihm sicher eine Geschichte erzählen.
Ein zartes Klirren ertönt und Salims Stimme antwortet: „Ich bin hier. Du klingst aufgeregt, Yassien. Was ist geschehen?“
„Mama und Ali schauen sich die Nachrichten an und ich muss ins Bett.“ Yassien ist richtig böse auf Mama.
„Aber du interessierst dich doch sonst nicht für die Nachrichten. Was ist denn heute so Besonderes?“, fragt Salim.
„Heute gehen vielleicht ganz viele Leute auf den midan et-TaHrir. Sie wollen dem rais zeigen, dass sie nicht wollen, dass er sie immer ärmer macht. Und ich wäre so gern mitgegangen!“
„Das kann ich verstehen, Yassien. Es wäre sicher aufregend“, antwortet Salim.
„Du glaubst es auch, nicht wahr? Stell dir vor, alle Ägypter gehen auf den Platz der Befreiung! Nur ich muss zu Hause bleiben.“ Yassien ist sehr traurig.
„Ja, das ist schade. Aber manchmal ist es so, dass man etwas nicht darf. Vor allem dann nicht, wenn es gefährlich werden könnte. Der Mond hat einmal gesehen, dass ein Junge unbedingt mit seinem Vater und dessen Gefährten auf die Jagd gehen wollte. Er hat mir die Geschichte erzählt. Magst du sie hören?“
„Ja“, sagt Yassien.
Salim erzählt: „Die Männer wollten so einen jungen Krieger noch nicht mitnehmen, weil es ihnen zu gefährlich erschien. Sie wollten nämlich einen einzelnen Löwen töten, der in der Umgebung die Rinder riss. Die Jäger brachen mitten in der Nacht auf und der Junge schlich hinter ihnen her. Im Dorf hatte es niemand gemerkt. Alle dachten, er schliefe.
Er musste ganz schön schnell laufen, denn die Jäger hatten es eilig. Als sie den Löwen eingekreist hatten und gerade ihre Pfeile abschießen wollten und ihre Speere schon auf ihn gerichtet waren, da stand plötzlich der Junge im Kreis. Er hatte die Gefahr noch nicht bemerkt, sondern dachte, dass die Jäger noch immer vor ihm her liefen Der Junge konnte sich zwar gut anschleichen, aber er war inzwischen müde. Deshalb achtete er nicht so genau darauf, leise zu sein. So scheuchte er den Löwen auf. Das Tier brüllte und der Junge blieb stocksteif vor Angst stehen. Der Löwe stand auf und ging auf das Kind zu, da traf ihn der erste Speer in die Seite. Alle Jäger schossen ihre Pfeile ab und töteten den Löwen rechtzeitig, bevor er dem Jungen etwas tun konnte.
Die Jäger waren froh, dass sie ihn retten konnten, aber auch sehr böse darüber, dass er ihnen gefolgt war. Sie wussten ja, wie gefährlich eine Löwenjagd sein konnte!
Sie nahmen den Jungen mit zurück ins Dorf und gaben ihm eine Strafe. Er durfte nicht nur bis zu seinem nächsten Geburtstag keine Rinder mehr hüten, sondern musste mit den Frauen des Dorfes Feuerholz sammeln. Das war eine sehr große Strafe. Glücklicherweise dauerte es bis zu seinem Geburtstag nur zwei Wochen. Doch er hat so gelernt, auf die Männer zu hören.
Und nun schlaf gut, Yassien. Morgen erfährst du sicher, was auf dem midan passiert ist. Gute Nacht, mein Kind.“
„Gute Nacht, Salim“, murmelt Yassien. Er ist sehr nachdenklich und schläft lange nicht ein.
Er hört ein zartes Klirren in dem Moment, als Ali leise die Zimmertür öffnet und ins Bett geht.

2. Demonstration

Am nächsten Morgen bringt Mama Yassien zur Schule.
„Ich weiß, dass du lieber allein gehen willst, Yassien, aber es ist mir zu gefährlich.“
„Immer ist es gefährlich“, mault Yassien. Doch er geht er mit Mama mit.
Am Schultor wartet sitt Rania mit den ersten Schülern.
„Es ist gut, dass Sie Yassien nicht allein gehen lassen“, sagt sie zu Mama. „Holen Sie ihn, wenn möglich, auch wieder ab.“
„Ja“, sagt Mama, „das mache ich. Bis später, Yassien!“

Als Mama ihn nachmittags abholt, berichtet Yassien:
„Alle Kinder sind in die Schule gebracht worden und nur Tarek muss allein gehen. Kann er mit uns kommen?“
„Ja, sicher“, antwortet Mama.
Yassien winkt und ruft nach Tarek, der über den Schulhof läuft. Gemeinsam gehen sie nach Hause.

„In der Schule haben wir über die Demonstration gesprochen, Mama!“
Mama fragt: „Und welches Kind war mit auf dem midan et-TaHrir?“
„Keins“, sagt Yassien und guckt auf sein Mathematikheft. „Aber alle wussten, dass ganz viele Leute auf dem midan waren. Sie haben irhal geschrien. Warum, Mama?“
„Sie wollen nicht mehr, dass der rais weiter in Ägypten regiert.“
„Meinst du, dass er nicht mehr wie ein Vater für die Ägypter sein soll?“
„Genau“, sagt Mama, „so meine ich es. Sie wollen, dass jemand anderer rais wird. Einer, der es gut mit uns und unserem Land meint.“
„Was soll der rais denn dann tun?“
„Das weiß ich nicht. Das ist den Leuten auch egal, glaube ich. Hauptsache, er geht weg.“
Yassien ist nachdenklich.
„Weg aus Kairo? Aber er wohnt doch hier.“ Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben.
Mama sagt: „Der rais hat sehr viel Geld und auch Häuser in anderen Ländern, es macht ihm wahrscheinlich nicht viel aus.“
Yassien weiß, dass es ihm viel ausmachen würde, wenn er nicht mehr zu Hause bleiben dürfte. Abends im Bett fragt er Salim.
Er schließt die Augen und wünscht Salim einen guten Abend. Das zarte Klirren ertönt und Salim entgegnet:
„Auch dir einen guten Abend, mein Kind.“
„Salim, wenn du nicht mehr zu Hause bleiben darfst, bist du dann traurig?“
„Ja, natürlich, Yassien. Willst du nicht mehr hier wohnen?“ Salims Stimme klingt erstaunt.
„Doch, ich will hier bleiben, aber der rais soll weggehen. Die Leute wollen das so. Er hat schlimme Dinge getan, sagen sie. Deshalb wollen sie ihn verjagen. Aus Kairo und aus Ägypten. Darum machen sie die Demonstration auf dem midan et-TaHrir. Mama hat es mir erklärt. Sie sagt, es würde dem rais nichts ausmachen, wenn er aus Ägypten weg müsste, weil er in anderen Ländern wohnen könnte. Aber ich glaube, er wäre sehr traurig.“
„Vielleicht wäre er es, Yassien. Ich war sehr traurig, als ich aus meinem Dorf weggegangen bin. Aber ich wusste, dass es nötig war. Sonst könnte ich dir jetzt nicht zuhören und dir keine Geschichten vom Mond erzählen.“
„Hm“, macht Yassien. „Die Leute in deinem Dorf haben dich nicht gemocht, oder?“
„Das stimmt“, sagt Salim leise. „Sie haben mich nicht gemocht. Ich habe nicht zu ihnen gepasst. Dann ist es manchmal besser, man geht woanders hin. Mit dem rais ist es etwas anders. Er hat den Menschen Schaden zugefügt.“
„Mama sagt, er wäre eigentlich der Vater von Ägypten.“
„Deine Mama hat recht, er müsste sich wie ein Vater um die Ägypter kümmern. Denk an deinen Papa. Der tut alles, damit es dir und Ali und deiner Mama gut geht. Deshalb arbeitet er in Luxor. Dort verdient er Geld für euch. Ich glaube, der rais hat irgendwann vergessen, wie er sich richtig um sein Volk kümmern muss.“
Yassien denkt an den Mann, den er auf Bildern oder im Fernsehen gesehen hat und den die Leute wegjagen wollen.
„Hat er denn gar nichts Gutes getan?“, fragt er dann.
„Ich glaube, dass er am Anfang alles richtig machen wollte. Aber er ist schon so lange Präsident, dass er daran nicht mehr denkt.“
„Woran denkt er denn?“ Yassien findet es schwierig, die Erwachsenen zu verstehen.
„Nun ja, ganz genau weiß ich das auch nicht“, antwortet Salim. „Ich bin ja nicht der rais. Wenn ich versuchen würde, so zu denken wie er, dann würde es mir sehr gefallen, in schönen Häusern zu wohnen und teure Kleidung zu kaufen. Damit ich die Häuser und die Kleidung bezahlen kann, arbeite ich. Ich mache mir keine Gedanken, dass es anderen Menschen in Ägypten schlecht gehen könnte. Ich schaue nur danach, dass ich das Geld verdiene, das ich brauche, um meine Wünsche kaufen zu können. Und wenn mir jemand vorschlägt, etwas zu entscheiden, was anderen Schaden bringt, dann achte ich nur darauf, was es mir nützt.“
„Das ist aber gemein!“ Yassien ist böse. „Dann soll er lieber nicht mehr der Vater von Ägypten sein!“
„Ja, du hast wahrscheinlich recht. Es wäre möglicherweise besser, wenn er abdanken würde, wenn er nicht mehr rais wäre.“
„Kennst du eine Geschichte vom Mond dazu, Salim?“ Yassien ist müde und will sich nicht mehr über den rais aufregen.
„Ja, der Mond hat mir einmal eine Geschichte erzählt“, sagt Salim. „Kuschel dich in deine Kissen.
An einem dunklen Abend ging ein junger Mann durch Kairo. Es war Winter und obwohl seine Familie reich war, hatte er keinen warmen Mantel. Er fror. Er konnte nicht nach Hause gehen. Sein Vater hatte ihn weggeschickt.
Eigentlich sollte der junge Mann die Fabrik übernehmen, die sein Vater schon von seinem Vater übernommen hatte. Er hatte viel Geld damit verdient. Die Fabrik stellte Teller und Tassen und Schüsseln her und diese Dinge benötigten die Menschen. Der Vater hatte seinem Sohn alles erklärt, was mit der Fabrik zu tun hatte, als er noch klein war. Er wollte, dass sein Sohn sie weiterführen sollte. Der Sohn hatte ihm geholfen, wenn er Ferien hatte. Er hatte fleißig gelernt und kannte sich gut aus. Doch dann hatten er und sein Vater sich zerstritten. Der Sohn hatte eine Idee gehabt. Er wollte das Geschirr verändern und verschönern, doch das wollte der Vater nicht. Er wollte alles so lassen, wie es war.
Sie hatten heftig miteinander gestritten und plötzlich hatte der Vater gesagt, er wolle den Sohn nicht mehr sehen. Er solle weggehen und sich nicht trauen, jemals wiederzukommen.
Der Sohn war zuerst wütend gewesen und hatte geschimpft, dann wurde er sehr traurig, aber nichts half. So ging er weg von Zuhause.“
„Da hat seine Mutter bestimmt sehr geweint, nicht?“, unterbricht Yassien Salim.
„Ja“, bestätigt Salim. „Der junge Mann war das einzige Kind. Er versuchte, Arbeit zu finden, doch es war ziemlich schwierig. Schließlich stellte ihn ein Caféhausbesitzer als Kellner ein. Der junge Mann verdiente nur wenig Geld. Er konnte sich keine Wohnung leisten. Im Sommer war es nicht schlimm. Ab und zu schlief er bei Freunden, aber die meisten wollten ihn nicht mehr als Freund haben, weil er kein Geld mehr besaß. Und jetzt, wo es kalt war, lief er manchmal die halbe Nacht durch die Straßen und setzte sich zu den bawabs und den Sicherheitsleuten ans Feuer, um sich zu wärmen.
Der Mond schickte ihm jede Nacht einen besonders hellen Lichtstrahl, um ihn aufzumuntern. Ein alter Freund hielt zu ihm und erzählte ihm hin und wieder von seiner Mutter.
Eines Nachts trafen sich die beiden Freunde und der junge Mann erfuhr, dass sein Vater sehr krank geworden war. Der Freund hatte mit der Mutter gesprochen. Sie wollte, dass der junge Mann nach Hause zurück kam. Der junge Mann konnte sich nicht dazu entschließen. Er konnte nicht vergessen, dass sein Vater ihn weggejagt hatte.
Doch dann dachte er an seine Mutter. Sie musste sich nun nicht nur Sorgen um ihn, sondern auch um den Vater machen. Er überlegte hin und her.
Schließlich sagte er dem Caféhausbesitzer, dass er nach Hause fahren müsse, und bat ihn um seinen Lohn. Der Caféhausbesitzer wurde böse, weil der junge Mann ihn so plötzlich verlassen wollte, und gab ihm weniger Lohn, als ihm zustand. Doch das war dem jungen Mann gleichgültig. Sein Geld reichte gerade für die Fahrkarte.
Als der Bus in seinem Heimatdorf ankam, klopfte sein Herz sehr stark. Was würde sein Vater sagen? Er ging zum Haus der Familie und trat ein. Seine Mutter sah ihn gleich und weinte vor lauter Freude. Sie brachte ihn zu seinem Vater. Der Vater lag im Bett und atmete schwer. ‚Er hat ein krankes Herz‘, sagte die Mutter. ‚Er darf nicht mehr so viel arbeiten.‘
Der Vater öffnete die Augen. Er sah seinen Sohn und sagte: ‚Bitte, Sohn, verzeih mir. Es tut mir leid, dass ich dich aus dem Haus geworfen habe. Bleib und übernimm die Fabrik. Nimm deinen Platz ein.‘
Der junge Mann freute sich sehr und blieb.“
„Jetzt geht es ihm wieder gut“, murmelt Yassien. „Gute Nacht, Salim.“
„Gute Nacht, mein Kind“, sagt Salim.
Ein zartes Klirren ertönt, doch Yassien hört es nicht.

© SEKEM

3. Was ist Revolution?

Yassien sitzt in der Küche und macht Hausaufgaben. Er schreibt den Buchstaben mim. Das ist gar nicht so einfach.
Mama bereitet das Abendessen vor.
„Heute waren wir nur 12 Kinder“, sagt er.
Mama guckt ihn an. „Was meinst du?“, fragt sie.
„Wir waren nur 12 Kinder in der Klasse“, wiederholt Yassien.
„Warum sind die anderen nicht gekommen? Sind sie krank?“ Mama schaut Yassien an.
„Nein“, sagt Yassien und schreibt weiter, ein mim nach dem anderen. „Sie sind nicht krank. Mama, warum sind Schüsse gefährlich?“
Er guckt hoch und sieht, wie Mama ihn mit großen Augen anschaut. Sie schluckt und sagt: „Schüsse sind gefährlich, weil sie Menschen verletzen und auch töten können. Wieso fragst du?“
sitt Rania hat gesagt, Tarek und die anderen bleiben zu Hause, weil ihre Eltern Angst haben, dass sie Schüsse abbekommen. Ist das wie im Fernsehen?“ Yassien ist plötzlich aufgeregt.
„Nein“, sagt Mama. „Im Fernsehen wird nicht richtig geschossen. Es sieht nur so aus. Hier in Kairo schießen die Soldaten oder die Polizisten mit echten Gewehren und deshalb ist es sehr gefährlich. Hast du schon jemanden schießen sehen?“
„Nein“, antwortet Yassien, „nur im Fernsehen. So viele Leute sind auf dem midan! Sogar nachts! Ich möchte auch mal hingehen.“
Erschrocken fragt Mama: „Woher weißt du denn, dass sie auch dort schlafen?“
„Ali hat es mir erzählt und in der Schule haben es die älteren Kinder gesagt. Gehen wir heute Abend zum midan? Bitte, Mama!“
„Nein, wir gehen nicht hin. Papa kommt heute Abend. Mach deine Aufgaben fertig, dann kannst du vor dem Essen noch spielen. Gut, dass morgen Freitag ist.“

Am Abend ist Papa wieder da. Yassien freut sich sehr.
„Papa“, ruft er, „hast du schon gehört, dass die Leute auf dem midan et-TaHrir Demonstration machen?“
„Ja“, antwortet Papa und zieht seine Jacke aus. „Es ist alles sehr aufregend, nicht? Lass uns nach dem Essen darüber sprechen. Ich habe Hunger!“

Yassien ist als Erster fertig mit dem Abendbrot. Es ist ihm ganz unwichtig, dass es Pizza gibt, sein Lieblingsessen. Er will, dass Papa ihm eine wichtige Frage beantwortet.
Endlich ist das Essen beendet.
Alle sitzen noch am Tisch, da platzt es aus Yassien heraus: „Papa, was ist Revolution?“
Einen Moment sind alle still. Mama hebt die Hände vors Gesicht und Ali verdreht die Augen, doch Yassien guckt nur Papa an.
Papa trinkt einen Schluck Wasser.
„Das ist eine schwere Frage“, antwortet Papa. „Ich weiß nicht, ob ich dir genau erklären kann, was Revolution ist. Lass uns mal im Wörterbuch nachsehen.“
Er geht zum Bücherschrank und holt ein dickes Buch heraus. Darin blättert er, dann sagt er: „Das Wort selbst heißt Veränderung oder Wandel oder auch Neuerung. Damit ist gemeint, dass Dinge, die man kennt, anders werden, weil jemand oder auch viele Menschen es so wollen. Bevor ich weiterspreche, sag mir bitte, wo du das Wort gehört hast.“
sitt Rania hat es gesagt. Sie hat gesagt, dass wir in Ägypten eine Revolution bekommen. Meint sie damit, dass die Leute auf dem midan et-TaHrir nicht nur Demonstration machen, sondern auch Revolution?“
„Ich nehme an, dass sie das meint“, erwidert Papa. „Ob es stimmt, wissen wir nicht. Also, jetzt zu deiner Frage, was die Leute unter Revolution verstehen. Eben habe ich gesagt, dass das Wort sagt, etwas verändert sich, wird neu. Das passiert, weil die Menschen es so wollen.
Hier in Ägypten ist es so, dass die Menschen wollen, dass sich ihr Leben verbessert. Sie wollen nicht arm bleiben, sondern einen Beruf haben und genug Geld verdienen, damit sie Essen und Kleidung und eine Wohnung für ihre Familien bezahlen können.“
„Deshalb machen die Leute die Demonstration auf dem midan. Deshalb rufen sie irhal, weil sie wollen, dass der rais sich mehr um sie kümmert. Mama hat es mir schon erklärt.“
„Gut, dann weißt du, warum die Demonstrationen stattfinden. Die Demonstrationen sind noch keine Revolution. Eine Demonstration wird veranstaltet, wenn die Menschen nicht mehr zufrieden sind, wie die Ägypter mit dem rais. Sie wollen nicht mehr still sein wollen, sondern ihre Meinung laut und deutlich sagen. Dazu gehen sie beispielsweise auf große Plätze, wo man sie gut sehen kann.“
„So wie auf dem midan et-TaHrir“, sagt Yassien nachdenklich.
„Genau.“ Papa nickt.
„Müssen die Soldaten und die Polizisten die Leute auf dem midan beschützen? Oder sind die Leute der Feind?“, fragt Yassien.
„Manchmal sind die Leute, die demonstrieren, sehr zornig. Sie rufen nicht nur, was sie ändern wollen, sondern richten auch Schaden an. Es kann sein, dass sie jemanden treten oder auch Fensterscheiben einschlagen oder Autos zerstören. Dann muss die Polizei sie daran hindern und bringt sie je nachdem ins Gefängnis. Die Soldaten helfen ihnen dabei.“
Yassien überlegt weiter.
„Und was ist mit Revolution?“, fragt er dann. „Sind die Leute da auch zornig?“
Papa nickt wieder. „Ja, meistens sind sie so zornig geworden, dass ihnen eine Demonstration nicht mehr ausreicht. Dann kann sich eine Revolution entwickeln.“
„Ist auf dem midan eine Revolution, Papa?“
„Nein, Yassien, auf dem midan gibt es Demonstrationen, aber keine Revolution.“
„Dann hat sitt Rania gelogen“, sagt Yassien.
„Nein, ich glaube nicht, dass sie gelogen hat. Sie denkt vielleicht, dass die Demonstranten eine Revolution machen wollen. Das ist ein Unterschied. Sie wird merken, dass sie alle friedlich sind und nur einen neuen rais haben wollen. Und nun haben wir genug geredet. Jetzt musst du ins Bett!“
Yassien ist wirklich müde. All die Wörter schwirren durch seinen Kopf: Demonstration, Revolution, Soldaten, Polizisten, Schüsse, midan et-TaHrir, friedlich.
Er lässt sich von Papa ins Bett bringen und kuschelt sich in seine dicken Kissen. Papa gibt ihm einen Kuss und sagt: „Nächste Woche habe ich frei und bleibe zu Hause. Da können wir beide etwas unternehmen, wenn die Schule aus ist.“
„Oh, wie schön! Papa, gehen wir auf den midan? Ich möchte so gern die Demonstratierer sehen!“
„Es heißt ‚Demonstranten‘, mein Sohn“, verbessert Papa ihn lächelnd. „Darüber sprechen wir morgen. Grüß Salim von mir und schlaf gut.“
„Gute Nacht, Papa.“

„Guten Abend, Salim“, sagt Yassien und gähnt.
Das zarte Klirren ertönt und Salim antwortet: „Guten Abend, Yassien.“
„Heute bin ich schon ganz müde. Papa hat mir von Demonstratierern erzählt und warum sie keine Revolution machen und dass sie auf dem midan sind.“
Seine Gedanken sind so wirbelig in seinem Kopf, dass ihm ganz schwindelig wird.
„Mir scheint, dann ist es besser, wenn du jetzt schläfst. Wir können uns morgen darüber unterhalten, ja?“
„Ja. Gute Nacht, Salim.“ Yassien schläft gleich ein und hört nicht mehr, dass Salim ihm ebenfalls Gute Nacht wünscht und dass das zarte Klirren wieder ertönt.

4. irhal!

Mama holt Yassien wieder von der Schule ab. sitt Rania wartet auf die Eltern am Tor und erklärt ihnen: „Morgen bleibt die Schule geschlossen.“
Mama fragt: „Wieso bleibt die Schule zu? Ich muss morgen arbeiten!“
„Die Regierung hat es so entschieden“, antwortet sitt Rania. „Bitte helfen Sie den Kindern bei den Hausaufgaben und üben Sie mit ihnen, was ich in den letzten Tagen aufgegeben habe. Ich hoffe, dass wir am Sonntag wieder ganz normal Unterricht haben werden. Auf Wiedersehen!“ Sie lächelt ein bisschen traurig.
Mama und Yassien kaufen auf dem Nachhauseweg Milch, Joghurt, Reis und Weißkohl ein, denn Mama will für Freitag maHshi coromb vorbereiten. Die ganze Familie isst diese Vorspeise so gern, dass Mama sie als Hauptgericht kocht.
„Gibt es dazu die Joghurtsoße, Mama? Sie war so lecker!“
„Ja, die gibt es dazu. Hilfst du mir?“
„Natürlich!“ Yassien liebt es, mit Mama zu kochen. Die Küche duftet dann so herrlich.

Papa ist zu Hause und repariert die Waschmaschine. Yassien geht zu ihm ins Bad und erzählt:
„Morgen fällt die Schule aus, Papa.“
„Oh“, macht Papa. Er hat sich hinter die Waschmaschine gekniet und die Rückwand festgeschraubt. Jetzt kommt er hoch und sagt lächelnd:
„Das ist eine gute Gelegenheit.“
„Wozu ist es eine gute Gelegenheit?“, fragt Yassien.
„Um auf den midan zu gehen.“
„Auf den midan? Ich darf auf den midan? Darf ich auch demonstratieren?“ Yassien strahlt.
„Darf ich es Mama sagen oder ist es ein Geheimnis?“, flüstert er plötzlich.
„Es ist kein Geheimnis. Ich habe mit Mama darüber geredet. Sie hat zwar Angst, dass etwas passieren könnte, aber ich habe ihr versprochen, gut auf dich achtzugeben. Wenn es gefährlich wird, gehen wir sofort nach Hause.“
„Wird es gefährlich? Meinst du, die Soldaten schießen mit ihren echten Gewehren?“ Yassien guckt Papa mit großen Augen an.
„Nein, ich glaube es nicht. Wir gehen hin und sind ganz ruhig und friedlich.“
„Dann sage ich jetzt Mama Bescheid! Mama!“
Yassien rennt auf die Dachterrasse, wo Mama die trockene Wäsche von der Leine nimmt.
„Mama, Papa hat gesagt, dass wir morgen auf den midan gehen!“
„Ja“, sagt Mama. „Ich weiß. Du willst ja schon von Anfang an dorthin. Papa hat mir versprochen, dass ihr gut auf euch aufpasst und nicht lange bleibt. Versprichst du mir das auch?“
„Ja, Mama. Ich passe mit auf. Wenn Papa und ich demonstratieren, ist es nicht gefährlich.“
Am liebsten würde Yassien sofort losgehen, doch Papa will heute noch ein paar Dinge erledigen und Yassien soll seine Hausaufgaben machen. Mama will außerdem, dass er übt, auch wenn er keine Schule hat.
„Papa wird dir morgen Aufgaben stellen, bevor ihr auf den midan geht“, sagt sie. „Ich will, dass du bei den Prüfungen gut abschneidest.“
„Aber Mama, die Demonstration ist doch viel wichtiger als die Prüfung!“
„Das finde ich nicht. Die Demonstrationen sind irgendwann zu Ende und was tust du dann, wenn du nicht ordentlich gelernt hast?“
„Mama hat recht“, sagt da Papa. „Es ist sehr wichtig, in der Schule zu lernen. Wenn die Demonstrationen vorbei sind und du erwachsen bist, kannst du aussuchen, welchen Beruf du ausüben willst. Wenn du deine Aufgaben fertig hast, magst du dann mit zu am Assad kommen? Ich brauche Elektrokabel und einen Schalter für die Stehlampe.“
„Oh ja!“ ruft Yassien. Zu am Assad geht er sehr gern. Sein Laden ist vollgestopft mit Lampen, elektrischen Uhren, Toastern, Steckdosen und allem, was man braucht, um Licht machen zu können. Außerdem riecht der qaHwa masbuut so gut, den er auf seinem kleinen Gaskocher für sich und Papa aufgießt.
Mama schaut Papa an und sagt: „Bitte pass auf, Walid.“
„Natürlich, Amal.“ Papa lächelt Mama an. „Mach dir keine Sorgen.“
„Können wir nicht sofort gehen?“ Yassien ist ungeduldig.
Papa schaut ihn an. Dann nickt er.
„Die Hausaufgaben machst du hinterher, Yassien!“, ruft Mama ihnen nach.

Abends im Bett schließt Yassien die Augen und sagt: „Guten Abend, Salim! Weißt du, was wir morgen tun, Papa und ich?“
Ein zartes Klirren ertönt und Salim antwortet: „Guten Abend, mein Kind. Nein, ich weiß nicht, was ihr morgen tun werdet.“
„Morgen gehen wir auf den midan, Salim! Auf den midan et-TaHrir! Wir demonstratieren!“
„Aha, ihr wollt auch demonstrieren.“
„Ja“, sagt Yassien. „Em, Salim, wie macht man das eigentlich?“
„Was“, fragt Salim. „Demonstrieren?“
„Ja, wie macht man demonstrat … demonstrit … wie hast du gesagt?“
„Es heißt ‚de-mon-strie-ren‘“, antwortet Salim. „Nun, dazu kann ich dir eine Geschichte erzählen. Der Mond sieht die Menschen, die demonstrieren, natürlich vom Himmel. Einmal hat er beobachtet, dass ein Pinguinkind wütend war. Hast du schon einmal einen Pinguin gesehen?
Weißt du, wo sie leben?“
„Ali hat ein Buch über Tiere. Darin gibt es Pinguine. Sie leben im Meer im Norden und sehen lustig aus. Sie haben zwei Füße und ganz kurze Flügel. An Land watscheln sie und im Wasser können sie gut schwimmen.“ Yassien hat aufgepasst, als sitt Rania über Pinguine gesprochen hat.
„Das stimmt“, bestätigt Salim. „Die Pinguine sind zwar Vögel, aber sie können besser schwimmen als fliegen. Ja, der kleine Pix war sogar sehr wütend. Du musst wissen, dass es richtige Pinguinkindergärten gibt. Die Kinder bleiben alle zusammen an Land, wenn die Eltern im Meer Futter suchen.
Pix‘ Eltern waren im Wasser. Sie waren ohne ihn schwimmen gegangen und darüber war Pix zornig. Er wollte unbedingt mit ins Meer und schwimmen lernen. Doch die Eltern hatten ihm gesagt, er müsse noch warten. So ging er in den Kindergarten und beschwerte sich bei seinem besten Freund Platsch. ‚Komm, wir gehen zum Häuptling und sagen ihm, dass wir endlich schwimmen lernen wollen.‘ Platsch war es ebenfalls langweilig an Land. Er wollte auch ins Meer und ließ sich überreden. Um die beiden herum fragten die anderen Kinder: ‚Was wollt ihr tun? Was habt ihr vor? Oh, ja da wollen wir dabei sein!‘
Pix und Platsch und alle Pinguinkinder watschelten gemeinsam zum Pinguinhäuptling und beschwerten sich.
Sie riefen laut: ‚Wir wollen ins Wasser!‘ und: ‚Wir wollen schwimmen lernen!‘
Der Häuptling hörte sich an, was die Kinder ihm zu sagen hatten, und sagte zu ihnen: ‚Wenn ein Pinguin schwimmen will, muss er zuerst zeigen, dass er ein echter Pinguin ist. Könnt ihr alle hüpfen?“
Alle Pinguinkinder hüpften mehrmals auf und ab. Der Häuptling guckte sich das Hüpfen genau an, dann nickte er.
‚Gut, ihr könnt hüpfen‘, sagte er. ‚Nun eine schwere Frage: Könnt ihr eure Schwänze bewegen?‘
‚Na klar‘, riefen die Kinder, legten sich auf den Bauch und zuckten mit den Schwänzchen.
‚Ich sehe, ihr könnt es‘, sagte der Häuptling. ‚Doch es gibt noch eine letzte Frage. Sie heißt: Könnt ihr alle fliegen?‘
Die Pinguinkinder schauten sich an. Sie bewegten ihre kleinen Stummelflügel und wussten genau, dass sie nicht fliegen konnten.
‚Nein‘, antwortete Pix laut. ‚Wir können nicht fliegen.‘
‚Wunderbar!‘ rief der Häuptling. ‚Dann seid ihr echte Pinguine! Ich beschließe folgendes: Morgen werdet ihr alle zum ersten Mal im Meer schwimmen. Nun geht zurück und wartet auf eure Eltern. Ich werde ihnen Bescheid sagen.‘
Die kleinen Pinguine freuten sich und rannten mit lautem Geheul zum Strand.“
„Das, was die Pinguine gemacht haben, war eine Demonstration?“ Yassien kann es nicht glauben. „Das ist alles?“
„Eigentlich schon“, antwortet Salim. „Wenn viele sich gegen etwas wehren oder etwas ändern wollen und gemeinsam zu jemanden hingehen…“
„…oder zu einem midan kommen…“, sagt Yassien.
„…dann nennt man es eine Demonstration.“ Salim nickt, aber das kann Yassien nicht sehen, weil er ja die Augen geschlossen hat.
„Und nun solltest du schlafen, Yassien. Du willst doch morgen ausgeschlafen sein, nicht wahr?“
„Ja, gute Nacht, Salim.“
„Die wünsche ich dir auch, mein Kind.“
Dann ertönt wieder das zarte Klirren. Bevor Yassien sich darüber wundern kann, öffnet sich die Tür. Ali kommt herein, um sich ins Bett zu legen, doch da ist Yassien schon eingeschlafen.

© Esam Al-Fetori/Reuters

5. Auf dem midan et-TaHrir

„Papa, hier sind aber viele Leute!“ Yassien ist ein bisschen ängstlich. Papa und er gehen mit der Menge mit und er sieht fast nur Beine.
„Wo gehen wir denn hin, Papa?“
„Wir gehen mit den anderen Leuten auf die Mitte zu“, antwortet Papa und beugt sich zu ihm hinunter. „Soll ich dich auf die Schultern nehmen?“
„Ja, dann sehe ich alles“, sagt Yassien. Sein Herz klopft ganz laut.
Papa hebt ihn hoch und setzt ihn sich auf die Schultern. Jetzt sieht Yassien die Köpfe von vielen, vielen Menschen. Einige halten große Schilder mit Bildern und Schrift hoch.
Yassien versucht zu lesen, was auf den Schildern steht, aber so gut kann er es noch nicht. Er sieht auch die Brücke, die über den großen Fluss Nil führt, und weiße Zelte, in die Männer hinein- und hinausgehen.
„Was sind das für Zelte, Papa?“
Papa sagt: „In den Zelten behandeln Ärzte die verletzten Männer.“
Yassien will fragen, warum die Männer verletzt sind, da werden sie und die Leute um sie herum angehalten. Soldaten stehen nebeneinander wie eine Mauer aus Uniformen. Einer sitzt oben auf einem Panzer. Er hat einen grauen Helm auf dem Kopf und hält ein Gewehr in den Händen. Yassien guckt sich den Panzer genau an. Er sieht riesig aus und ein Rohr steht vorn vor und zeigt in die Luft.
Ein Soldat mit einer roten Kappe spricht mit Papa. „Hast du einen Pass? Zeig ihn mir.“
Papa holt seinen Pass aus der Hosentasche und gibt ihn dem Soldaten. Dabei kann Yassien sehen, dass sein Gesicht mit einem roten, einem weißen und einem schwarzen Streifen bemalt ist.
Der Soldat schaut Papa kurz an, dann nickt er, schaut hoch und fragt: „Ist das dein Sohn? Pass gut auf den Kleinen auf. Bleib mit ihm am Rand.“
Papa sagt: „tamam.“
Dann geht er mit Yassien ein Stück weiter vor.
„Papa, warum sind die Männer in den Zelten verletzt und warum hat der Soldat sein Gesicht bemalt?“, fragt Yassien, als der Soldat sie nicht mehr hören kann.
„Manchmal verletzen sich die Männer hier, weil sie nicht die gleiche Meinung über den rais oder die Regierung haben. Sie schlagen oder treten sich gegenseitig“, erklärt Papa. „Andere bringen sie dann in die Zelte, damit die Ärzte ihnen helfen können.“
„Aha“, murmelt Yassien. Er versteht nicht, warum sich die Männer verletzen. Alles um ihn herum sieht friedlich aus. Obwohl sehr viele Menschen hier sind, hört er nur normal laute Gespräche, manchmal lacht auch jemand.
„Und die bunten Streifen? Was bedeuten sie?“, fragt er.
„Erinnerst du dich an unsere ägyptische Fahne?“, fragt Papa ihn. „Ich habe sie dir einmal in einem Buch gezeigt. Weißt du noch, welche Farben sie hat?“
„Ja, ich glaube, sie war rot und weiß.“
„Und schwarz. Der Mann hat sich die Farben unserer Flagge auf das Gesicht gemalt. Er will so zeigen, dass er zu Ägypten gehört und dass er der Meinung ist, dass die Regierung sich besser um uns kümmern muss.“
„Will er auch, dass der rais aus Kairo weggehen soll?“ Yassien muss wieder daran denken, wie ihm dabei zumute wäre.
„Das ist möglich“, antwortet Papa.
Plötzlich hören sie Geschrei.
„Was ist da los?“, ruft Papa. „Kannst du etwas sehen?“
Yassien schaut in die Richtung, aus der die Rufe kommen, und sieht Männer auf Kamelen vom Nil heran reiten.
„Was tun sie?“ fragt Papa und setzt sich in Bewegung, zurück zu der Mauer, die die Soldaten bilden.
„Sie haben dicke Stöcke in den Händen“, sagt Yassien. „Damit schlagen sie auf die Kamele und auf die Leute. Papa, warum tun sie das?“
„Weil sie böse sind und die Demonstrationen nicht wollen. Sie wollen, dass alles bleibt, wie es war. Halt dich fest, Yassien! Ich versuche, so schnell wie möglich wegzukommen.“
Yassien hält sich an Papas Kopf fest. Es fühlt den festen Griff von Papas Händen an seinen Füßen. Trotzdem wippt er, als Papa sich mit ihm durch die Leute drängt. Das ist richtig lustig, denkt er. Dann merkt er, wie die Menschen um sie herum stoßen und drängen. Er sieht auch, dass die Reiter ihre Kamele weiter in die Menge hineintreiben. Jetzt erkennt er Pferde mit Reitern, die dasselbe tun.
Er erschrickt. Er bekommt große Angst.
„Papa, ich will nach Hause!“, ruft er.
„Wir sind schon unterwegs! Hab keine Angst. Wir sind gleich in der sharia muhammad pasha mahmoud“, ruft Papa zurück und schiebt sich an dem Wall aus Soldaten vorbei. Einer von ihnen geht zur Seite und lässt ihn durch.
Papa läuft ein kleines Stück und bleibt dann an der Mauer eines großen Gebäudes stehen. Yassien weiß, dass dahinter eine Schule liegt.
Papa atmet tief ein und sagt: “Steig ab, Yassien. Du bist ganz schön schwer geworden. Das habe ich gar nicht gemerkt! Hast du für mich mitgegessen, als ich in Luxor war?“
Yassien muss lachen. „Aber Papa, du bist doch groß und isst viel mehr als ich. Nein, ich bin von allein gewachsen.“
„Das muss ich gleich Mama erzählen. Sie gibt dir zu viel zu essen!“
Yassien lacht immer noch. Dann fragt er: „Papa, hattest du Angst?“
Papa wird ernst.
„Ja“, sagt er, „ich hatte Angst. Ich hatte Angst, dass dir etwas passieren könnte. Hier kann uns nichts geschehen. Komm, lass uns zu Mama und Ali zurück gehen.“
Er nimmt Yassiens Hand und hält sie ganz fest. Zusammen gehen sie an Soldaten und Panzern und Straßensperren und am Abdin-Palast vorbei nach Hause.
Zu Hause erzählt Yassien, was sie gesehen haben und dass ein Soldat sie durchgelassen hat, damit sie die Demonstration verlassen konnten.
Ali will alles ganz genau wissen und wäre gern dabei gewesen.
Mama ist sehr froh, dass sie heil zurück sind.

An diesem Abend erzählt Yassien Salim von seinen Erlebnissen auf dem midan et-TaHrir.
„Das war sehr aufregend für dich, nicht wahr?“, sagt Salim. „Jetzt bist du sicher zu müde, um noch eine Geschichte zu hören, oder?“
„Ich glaube schon“, antwortet Yassien. „Kannst du mir morgen sagen, was Regierung heißt?“
„Ja, das tue ich gern, mein Kind. Der Mond hat mir dazu eine Geschichte erzählt. Gute Nacht, Yassien, schlaf gut.“
Yassien hört Salims Stimme von weit entfernt und träumt schon davon, dass er auf Papas Schultern einen langen Ritt unternimmt, als das zarte Klirren ertönt.

6. Revolution

Am nächsten Morgen wird Yassien spät wach. Mama hat ihn ausschlafen lassen, weil die Schule geschlossen ist. Sie leistet ihm beim Frühstück Gesellschaft.
„Wo sind denn Papa und Ali?“, fragt Yassien.
„Sie sind einkaufen“, erklärt Mama. „Wir benötigen dringend Mehl, Zucker, Tee und andere Dinge. Schmeckt es dir?“
Yassien nickt.
„Wenn du fertig bist, üben wir Mathe, Arabisch und Englisch.“ Mama schaut ihn an. „Du bist etwas blass, Yassien. Geht es dir nicht gut?“
„Doch“, sagt Yassien. „Ich habe keine Lust, zu üben.“
„Denk an Rasha, von der Salim erzählt hat. Erinnerst du dich, wie gern sie zur Schule gehen wollte?“
Mama steht auf und holt Yassiens Schultasche.
„Rasha hatte es gut“, sagt Yassien leise. „Mama, warum haben die Reiter auf den Kamelen und Pferden gestern die Leute geschlagen?“
Mama setzt sich neben ihn und sagt: „Sie sind diejenigen, die wollen, dass der rais und seine Regierung in Kairo bleiben. Es ist ihnen egal, was er getan hat. Sie sind seine Freunde und der rais behandelt sie gut.“
„Wenn sie so böse sind, dann sollen sie lieber alle weggehen!“ Yassien ist wütend. „Dann will ich nicht, dass sie noch in Ägypten sind.“
Einen Augenblick sagt er nichts und Mama auch nicht. Sie schauen sich an.
Dann sagt Yassien: „Aber nur Englisch und Arabisch!“
Mama gibt ihm seine Tasche.

Yassien geht früh an diesem Abend ins Bett. Er ist müde, aber er will vor allem mit Salim sprechen. Er zieht die Decke bis an sein Kinn hoch und schließt die Augen.„Guten Abend, Salim.“
Das zarte Klirren ertönt und Salims Stimme antwortet: „Guten Abend, mein Kind.“
„Salim, du wolltest mir erklären, was Regierung heißt!“
„Ah ja. Nun, Regierung ist ein schweres Wort, aber mit der Geschichte vom Mond wirst du es verstehen. Diese Geschichte beginnt mit ‚Es war einmal…‘, denn sie ist fast ein Märchen.
Also: Es war einmal ein König. Er war König über ein großes Land und lebte in einem wunderschönen Schloss. Er hatte eine Königin, einen Sohn und eine Tochter und viele Untertanen. Die Untertanen arbeiteten für ihn und er arbeitete für sie. Die Untertanen pflanzten Gemüse und Früchte an und bauten Straßen und Häuser. Sie kochten und putzten in seinem Schloss und hielten alles in Ordnung, im Schloss und auch im Land. Der König gab ihnen Geld für ihre Dienste und passte genau auf, dass sie alles richtig machten und dass es ihnen gut ging. Außerdem machte er Gesetze. Das bedeutet, dass er Regeln aufschrieb, an die sich alle halten mussten.“
„Meinst du damit, dass die Leute sich nicht streiten sollen?“
„Ja, und dass die Kinder in die Schule gehen und dort wichtige Dinge lernen sollten. Das nennt man regieren. Der König regierte über sein Land.“
„Aha“, sagte Yasssien. „Und der rais regiert über uns?“
„Ja, der rais regiert das ägyptische Volk. Er tut es nicht allein. Er hat Männer, die Minister heißen, und die mit ihm besprechen, was im Land getan werden muss. Zum Beispiel gibt es einen Minister, der sich darum kümmern soll, dass die Kinder in die Schule gehen können. Der rais fragt den Minister, ob es genügend Schulen gibt und in den Schulen ausreichend Tische, Stühle, Tafeln und Bücher, oder ob irgendwo ein Lehrer gebraucht wird. Und wenn der Minister sagt, er braucht eine neue Schule, weil viele Kinder geboren worden sind, dann gibt der rais ihm die Anweisung, die Schule bauen zu lassen. Die Tische, Bänke und alles andere Notwendige muss der Minister ebenfalls besorgen lassen. Ist die Schule fertig, muss der Minister dem rais davon berichten, und manchmal kommt der rais selbst zu ihrer Eröffnung. So ungefähr funktioniert es auch mit den anderen Ministern.“
„Welche Minister gibt es noch, außer dem für die Schulen?“, will Yassien wissen.
„Es gibt einen Minister dafür, dass die Straßen in Ordnung gehalten oder neu gebaut werden. Ein anderer Minister kümmert sich darum, wo in Kairo oder in einer anderen Stadt neue Häuser gebaut werden dürfen. Dann ist ein Minister zuständig dafür, dass den Menschen, die sich streiten, bei Gericht geholfen wird. Ein anderer passt darauf auf, dass möglichst viele Leute arbeiten können…“
„Oh, das sind aber viele Minister! Da muss der rais aber viel arbeiten, wenn er mit allen alles besprechen will.“
„Das ist wahr“, bestätigt Salim. „Regieren ist viel Arbeit.“
Yassien gähnt.
„Ich will nicht rais werden“, sagt er. „Ich will lieber nicht mit so vielen Ministern sprechen müssen.“
„Mein Kind, es ist Zeit zum Schlafen. Wir können morgen weitersprechen. Schlaf gut.“
„Gute Nacht, Salim“, murmelt Yassien und schon fallen ihm die Augen zu.
Das zarte Klirren hört er nicht mehr.

7. Der Rais soll abdanken

Mama und Papa sind traurig. Yassien erkennt es an ihren Gesichtern. Sie gucken ihn und Ali und auch sich nur an, wenn es nicht anders geht. Sie reden nicht viel. Mama hat außerdem geweint, ihre Augen sind rot.
Yassien weiß nicht, was er machen soll. Er schleicht in das Zimmer, in dem er und Ali schlafen. Ali sitzt auf seinem Bett und liest. Jetzt, wo die Schulen geschlossen sind, liest er am liebsten.
„Ali“, sagt Yassien, „warum weint Mama? Warum sind Mama und Papa so traurig? Warum sagen sie nichts? Sind sie böse auf mich?“
Yassien muss selbst fast weinen.
Ali schaut von seinem Buch auf. „Was?“, fragt er.
„Warum sind Mama und Papa traurig? Sind sie böse?“, fragt Yassien noch einmal. „Auf mich?“
„Nein, das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.“ Ali blättert eine Seite um.
Yassien ist froh, dass er nicht der Grund dafür ist, dass Mama und Papa nichts sagen.
„Aber warum sind sie dann traurig?“, will er wissen.
„Weil sie Angst haben“, murmelt Ali und ist wieder ganz in sein Buch vertieft.
„Mama und Papa haben Angst?“ Yassien ist sehr erstaunt. Mama und Papa sind doch groß. Große Leute haben keine Angst.
„Sie haben Angst vor dem Neuen. Und jetzt lass mich in Ruhe, Yassien. Ich will lesen!“ Ali dreht sich auf die Seite und kümmert sich nicht mehr um Yassien.
Yassien überlegt, was er tun soll. Dann geht er in die Küche zu Mama. Als er die Tür öffnet, deckt sie den Tisch. Papa sitzt auf seinem Stuhl und sieht aus dem Fenster.
„Mama, warum hast du Angst?“, fragt Yassien.
„Ich?“ Mama guckt erschreckt.
Da sagt Papa: „Komm mal zu mir, Yassien. Wer sagt, dass Mama Angst hat?“
Yassien klettert auf Papas Schoß.
„Ali sagt, ihr habt beide Angst. Aber warum? Was ist das Neue?“
Mama guckt Papa an und Papa nickt.
„Ali hat recht, Yassien. Wir haben beide Angst. Wir haben Angst, weil wir nicht wissen, was passiert. Du weißt doch, dass viele Leute wollen, dass der rais nicht mehr ihr rais sein soll. Und du weißt auch, dass es andere gibt, die ihn behalten wollen.“
Yassien nickt. „Deshalb habt ihr Angst?“
„Ja. Wir befürchten, dass die Leute miteinander kämpfen werden, die einen, damit der rais weggeht, die anderen, damit er dableibt. Wenn er abdankt, dann kann niemand einschätzen, was anschließend geschieht. Keiner weiß, wer neuer rais wird. Außerdem kann es sein, dass Mamas Büro geschlossen wird.“
Es klingelt an der Tür.
Tarek steht da. Er möchte mit Yassien spielen. Yassien will lieber bei Mama und Papa bleiben und sie trösten, aber Papa sagt:
„Geh mit zu Tarek. Spielen ist besser als hier herumsitzen.“
Yassien ist wieder zum Weinen zumute. Papas Stimme klingt ganz anders als sonst. Aber er sagt nichts und geht zu Tarek.

Am Abend ist Yassien ganz unglücklich, als er unter seine Bettdecke kriecht.
„Guten Abend, Salim“, sagt er leise mit geschlossenen Augen. „Mama und Papa sind traurig, weil der rais abdanken wird oder vielleicht auch nicht. Es ist so schwer zu verstehen! Was ist abdanken, Salim?“
Das zarte Klirren ist zu hören, dann antwortet Salims Stimme:
„Guten Abend, Yassien! Du klingst so betrübt, mein Kind. Du würdest Mama und Papa gern helfen, nicht wahr?“
„Ja“, antwortet Yassien, „aber ich weiß nicht, wie.“
„Es ist auch sehr schwierig, Erwachsenen zu helfen. Lass uns zuerst deine Frage klären. Abdanken bedeutet, dass jemand wie der rais oder ein König sein Amt niederlegt. Er ist dann nicht mehr rais oder König.“
„Ein König kann nicht mehr König sein, wenn er nicht mehr will? Muss er seine Krone abgeben?“ Yassien ist sehr erstaunt.
„Nein, das muss er nicht. Er bleibt der alte König, wenn er sein Königreich an einen jungen Prinzen abgibt. Dazu kann ich die Geschichte von gestern Abend zu Ende erzählen. Allerdings ist es bei dem König anders als bei einem rais. Der rais muss sich eine normale Arbeit suchen und Geld verdienen, wenn er abgedankt hat.“
„Aber unser rais ist doch schon ein Großvater. Was soll er denn arbeiten?“
„Auch Großväter arbeiten manchmal. Allerdings glaube ich, dass unser rais genügend Geld hat und nichts verdienen muss.“
„Aha“, machte Yassien. „Das alles ist wirklich sehr schwer zu verstehen.“
Er gähnt.
„Bitte erzähl die Geschichte von dem König weiter, Salim.“
„Nun, mit den Jahren wurde der König älter und müde und hatte keine Lust mehr, sich um sein Land und die Leute, die dort lebten, zu kümmern. Er saß den ganzen Tag auf seinem Thron und unterhielt sich mit seinen Besuchern oder mit dem Hofnarren oder er schlief. Sogar sein Essen ließ er sich zum Thron bringen. Seine Aufgaben, beispielsweise Streit zu schlichten oder neue Gesetze zu erlassen, erledigte er kaum noch. Er wurde dicker und dicker und müder und müder. Abends mussten ihn seine Diener vom Thron herunterheben und zu seinem Bett tragen, weil er zu dick geworden war, um selbst zu laufen.
Der Mond machte sich große Sorgen um ihn. Auch der Königin gefiel das nicht. Sie schimpfte mit dem König und befahl dem Koch, das Essen nur noch auf den Tisch im Speisezimmer zu stellen, aber es half nichts. Der König machte sich nichts daraus, was sie sagte, und wenn sie gegangen war, rief er den Koch mit dem Essen zu sich zum Thron.
Die Minister trafen sich jeden Tag und überlegten von morgens bis abends, was sie tun könnten, um dem König das Regieren zu erleichtern, so dass er wieder Freude daran fand. Doch es fiel ihnen nichts ein.
Der Prinz und die Prinzessin waren älter als du, Yassien. Auch sie wollten, dass ihr Vater wieder fröhlich sein wollte. Doch sie fanden ebenfalls keine Lösung.
Eines Nachts wachte der Prinz auf. Der Mond stand silbern und voll am Himmel. Er hatte ihn mit einem Silberstrahl an der Nase gekitzelt, damit er aus seinem Traum erwachen sollte. Der Prinz schaute sich um und wusste nicht gleich, dass er in seinem Bett lag, denn er hatte etwas Wunderbares geträumt. Im Traum hatte er die Königskrone auf seinem Kopf und wurde in prächtigen Gewändern zu einem Thron geführt. Er erinnerte sich an viele Leute, die klatschten, daran, dass Musik gespielt wurde und dass seine Eltern und die Prinzessin neben ihm standen und ihn voller Freude ansahen.
Der Mond kitzelte ihn noch einmal mit einem Silberstrahl an der Nase, damit er nicht wieder einschlief. Er wollte, dass der Prinz der Prinzessin seinen Traum erzählte – und siehe da!
Der Prinz sprang aus dem Bett und lief in das Zimmer nebenan, in dem seine Schwester tief und fest schlief. Der Prinz musste sie am Hals und hinter dem Ohr kitzeln. Da erst schlug sie die Augen auf.
‚Muss ich schon aufstehen?‘ rief sie und gähnte laut.
‚Nein, bleib liegen‘, sagte der Prinz. ‚Es ist tief in der Nacht, aber ich muss etwas mit dir besprechen. Etwas Wichtiges!‘
Er berichtete ihr, was er geträumt hatte. Sie sah ihn an und fragte:
‚Und du meinst, das geht?‘
‚Ich glaube schon. Nächsten Monat werde ich 21 Jahre alt. Dann darf ich König werden.‘
‚Hm‘, machte die Prinzessin. ‚Wir müssen mit Mutter sprechen.‘
Sie zog ihren Morgenmantel an und zusammen huschten die beiden ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Der König schnarchte leise. Die Königin wurde sofort wach, als die Prinzessin ihren Arm streichelte.
Gemeinsam gingen sie in das Zimmer der Prinzessin und dort erzählte der Prinz ihr von seinem Traum.
„Du musst mit Vater sprechen, Mutter‘, sagte die Prinzessin. ‚Vielleicht ist er einverstanden.‘
‚Aber erst morgen früh‘, bestimmte die Königin. ‚Jetzt legt euch wieder schlafen.‘
Beim Frühstück berichtete die Königin dem König von dem Traum.
Der alte König war erleichtert, dass sein Sohn für ihn König werden wollte. Einen Monat später dankte er ab.“
„So ähnlich war es auch bei am Essam. Er hat seine Holzwerkstatt an seinen ältesten Sohn abgegeben. Gute Nacht, Salim“, sagt Yassien leise. Er ist auf der Stelle eingeschlafen.
„Schlaf gut“, erwidert Salim, doch Yassien hört ihn nicht mehr und auch das zarte Klirren nicht.

© Yalshaer

8. Der Rais dankt ab

Yassien wird wach.
Er überlegt: Ist es schon Morgen? Nein, das kann nicht sein. Es ist noch ganz dunkel. Warum ist er dann wach geworden?
Von draußen hört er ein Rauschen, als würden weit weg viele Menschen miteinander sprechen.
Was mag das sein?
Leise steht er auf. Er kennt sich auch im Dunkeln im Zimmer aus, doch ein Lichtschein von außen fällt wie ein Strahl durchs Fenster. Der Mond scheint.
Yassien sieht Salim wie einen Schatten auf der Kommode gegenüber sitzen.
Ali liegt nicht in seinem Bett.
Wo kann denn Ali nur sein?
Erschrocken rennt Yassien zur Tür, öffnet sie und läuft zu Mamas und Papas Schlafzimmer.
Die Tür steht offen.
„Mama?“ fragt er.
Niemand ist im Zimmer.
Da hört er Stimmen von der Dachterrasse. Es sind die Stimmen von Mama und Papa und Ali.
Er kann nicht verstehen, was sie sagen.
Er geht hinaus.
„Mama?“ fragt er noch einmal.
Da entdeckt Papa ihn. Er nimmt ihn auf den Arm, obwohl Yassien doch schon in die Schule geht und nicht mehr klein ist.
Papa tanzt mit ihm über die Terrasse und ruft voller Freude:
„Yassien, der rais hat abgedankt! Stell dir das vor! Das ägyptische Volk hat ihn vertrieben. Wir sind frei!“
Unten auf der Straße freuen sich die Menschen und jubeln. Von überall schallen Rufe: „Freiheit für Ägypten!“
„Was tust du, Wahid? Lass das Kind bitte los. Komm her, mein Yassien.“ Mama zieht ihn in ihre Arme und lacht und weint gleichzeitig. Papa tanzt allein weiter. Ali steht an der Brüstung und schaut hinunter auf die Straße. Yassien kann vom Nil her Feuerwerk aufsteigen sehen.
„Du weinst ja wieder, Mama. Was ist denn bloß?“ Yassien versteht überhaupt nichts.
Mama drückt ihn an sich und sagt ganz glücklich: „Was Papa gesagt hat, stimmt. Der rais ist zurückgetreten. Er ist nicht mehr unser rais. Er hat es vorhin im Fernsehen verkündet. Wir werden einen neuen wählen. Jetzt wird alles gut.“
Yassien ist das im Moment nicht wichtig. Er will in sein Bett zurück.

Am Morgen sprechen sie beim Frühstück über die Neuigkeit. Im Fernsehen wird die Abdankung des alten rais mehrmals gesendet. Yassien schaut es sich zwei Mal an.
„Der rais sieht aber komisch aus. Was macht er jetzt?“, fragt er.
„Er wird nach Sharm es-Sheikh geflogen. Er hat dort ein Haus und muss erst einmal dort bleiben“, antwortet Papa. „Seine Familie bleibt mit ihm in Sharm. Sie müssen ihre Häuser in Kairo abgeben, und wahrscheinlich werden sie bestraft.“
Das geschieht dem rais recht, denkt Yassien. Es war nicht richtig, was er getan hat. Wenn er, Yassien, etwas falsch macht, bekommt er auch eine Strafe von Mama.

Später gehen Mama, Papa, Ali und Yassien zusammen auf den midan et-TaHrir. Yassien hat ein bisschen Angst, dass wieder Reiter kommen und mit Stöcken um sich schlagen. Doch Papa sagt: „Das passiert nicht, Yassien. Heute ist ein Festtag! Alle Menschen feiern, auf dem midan und in Kairo und in ganz Ägypten!“
Er nimmt Yassien auf die Schultern, wie vor einigen Tagen.
Sie sehen viele Menschen auf dem midan et-TaHrir, Männer, Frauen und Kinder, die sich freuen und miteinander sprechen und lachen. An einigen Stellen wird Tee gekocht und herumgereicht. Papa und Mama nehmen ein Glas, Ali auch. Yassien will keinen Tee.
Freunde von Papa, am Assad und am Essam, sind ebenfalls da. Sie unterhalten sich mit Papa und machen miteinander Witze, über die sie dann laut lachen. Ali sagt etwas zu Mahmoud, am Essams Sohn. Die beiden spielen zusammen Fußball im Sportklub.
Yassien schaut sich alles genau an: die vielen Leute, die gut gelaunt sind, die Zelte in der Mitte des midan und die Soldaten in Uniform mit den Panzern am Rand. Sogar die Soldaten sehen fröhlich aus.
Dann sagt Mama: „Komm, Yassien. Wir gehen nach Hause. Du musst ins Bett. Morgen ist endlich wieder Schule und du sollst ausgeschlafen sein.“

„Guten Abend, Salim“, sagt Yassien, als er sich in sein Bett gekuschelt und die Augen geschlossen hat. Ein zartes Klirren ertönt und Salim sagt:
„Guten Abend, Yassien.“
„Mama und Papa sagen, dass jetzt alles besser wird. Der rais ist weg. Er muss nach Sharm es- Sheikh fliegen und da bleiben und seine ganze Familie auch.“
„Gefällt dir das nicht?“, fragt Salim.
„Es ist so komisch. Auf dem midan et-TaHrir feiern die Leute. Sogar die Soldaten sind lustig und lachen. Wir waren heute da. Ich habe es selbst gesehen.“
„Was stört dich daran?“, will Salim wissen.
Yassien antwortet: „Ich weiß es nicht. Eigentlich ist es ja schön, dass sich alle freuen.“
„Das finde ich auch“, sagt Salim. „Aber es bedrückt dich etwas.“
„Ja“, sagt Yassien. „Wir brauchen doch jetzt einen neuen rais, oder nicht?“
„Ich denke schon“, erwidert Salim. „Und?“
„Wer wird das sein? Und wenn der auch böse zu uns ist? Was passiert dann, Salim?“
„Hm“, macht Salim. „Das weiß ich auch nicht. Hat Dein Papa gesagt, dass es einen neuen rais geben wird?“
„Nein, niemand hat davon gesprochen. Aber wir brauchen doch einen.“
„Vielleicht brauchen wir einen, aber möglicherweise nicht gleich. Wenn ein rais zurücktritt, dann dauert es manchmal eine Weile, bis ein neuer gewählt wird. Die Minister und andere Männer, man nennt sie Politiker, müssen einen aussuchen.“
„Ist das schwer?“
„Ja, manchmal schon. Er muss ja einiges können, der neue rais. Doch damit werden die Politiker sicher morgen anfangen. Heute wollen alle Ägypter feiern.“
Yassien gähnt. Das viele Nachdenken hat ihn angestrengt.
„Mir scheint, es ist besser, wenn ich heute keine Mondgeschichte mehr erzähle. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Yassien.“
Yassien nickt mit geschlossenen Augen. „Ja“, murmelt er, doch einschlafen kann er noch nicht. In seinem Kopf wirbeln die Bilder aus dem Fernsehen und vom midan et-TaHrir durcheinander.
Deshalb hört er heute das zarte Klirren. Er hört auch Ali, als er in sein Bett geht. Er merkt sogar, dass Mama noch einmal den Kopf zur Tür hereinsteckt, um zu sehen, ob ihre Söhne zugedeckt sind.
Erst danach schläft er ein.

Alle Rechte vorbehalten – Astrid Kühnemann

 

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