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Leben in Luxor Autorenforum: Ahmad Abou Khnegar - Die Schlucht am Rand der Wüste

von Hans Mauritz (August 2013). Illustriert von Claudia Ali

 

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Unter den Touristen, die Oberägypten besuchen, und unter den Ausländern, die sich in Luxor oder Assuan niedergelassen haben, wissen wohl nur wenige, was „oberägyptische Literatur“ bedeuten könnte. Man darf sie deshalb nicht tadeln. Selbst für Ägypter aus dem Norden ist „al-Sa’îd“ (1) eine ferne und fremde Welt. Ein Gouverneur der Provinz Luxor, der aus einer Stadt des Deltas stammt, hat vor nicht langer Zeit geklagt, er komme sich im Süden wie auf einem anderen Planeten vor. Was den Deutschen der Ostfriese ist, ist den Unterägyptern der „Sa’îdi“. Nichts amüsiert sie mehr als Witze über den Tölpel aus dem Süden, der auf seiner Reise nach Kairo einen Bock nach dem anderen schiesst. Dass das Phänomen „oberägyptische Literatur“ weitgehend unbekannt ist, liegt auch daran, dass die meisten Literaten sich früher oder später in der Hauptstadt niederlassen. Nur dort gibt es Verlage, Literaturzeitschriften, eine Buchmesse, Buchhandlungen und ein Publikum, das Bücher liest, weil es sie sich leisten kann. Und weil kaum ein Autor vom Schreiben leben kann, sucht er in Kairo einen Broterwerb: im Journalismus, im Verlagswesen oder im staatlichen Kulturbetrieb.

Oberägypter schreiben Werke, die einen eigenen Charakter haben, oft grundverschieden von dem, was in den Städten des Nordens geschrieben wird. Nicht der urbane Raum mit seinen sozialen und politischen Problemen steht im Mittelpunkt, sondern die Welt der Dörfer und ihrer Traditionen. Kleinstädter, Bauern, Nomaden, Zigeuner und Aussenseiter aller Couleur bevölkern diese Welt. Was erzählt wird, hat oft archaischen und mythischen Charakter: Sitten und Gebräuche, Aberglaube, der auf heidnische Zeit zurückgeht, Irrationales und ein Verhalten, das Aussenstehenden fremd und barbarisch vorkommen mag. Wer diese Bücher liest, lernt ein Ägypten kennen, das ihm sonst wohl meist verschlossen bleibt.

Ahmad Abou KhnegarAhmad Abou Khnegar (auch: Ahmed Abu Khnegar) ist einer der wenigen unter den bekannten Autoren Oberägyptens, der seiner Heimat treu geblieben ist: er wurde 1967 in einem Dorf bei Assuan geboren und lebt noch heute in dieser Stadt. Sein Werk umfasst vier Romane, von denen zwei mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurden, und drei Sammlungen von Erzählungen (2). Er ist auch auch als Experte für die Volkskultur seiner Heimat bekannt. Sein Bericht „In den Weiten der Wüste“ (3) schildert die Wallfahrt zum Schrein eines frommen Scheichs, al-Shâzli, den Aufstieg durch die Wüste zum Gebel Hamîthra, die Prozessionen, Rituale und die Darbietungen der Sufis, die zu einem solchen „Mûlid“ gehören (4).

Ahmad Abou Khnegar - Le Ravin du chamelierDer Roman „Die Schlucht des Kameljungen(5), den wir hier vorstellen, trägt Züge des Mythos, der Sage und des Märchens. Seine Ereignisse könnten vor Jahrzehnten, vielleicht vor Jahrhunderten geschehen sein. Die Schlucht ist durch eine Barriere aus Felsen vom Dorf getrennt. Auf der anderen Seite führt eine Karawanenpiste zwischen hohen Bergwänden in die Wüste hinein. Von dort ist nie ein Reisender zurückgekehrt. Der Autor hat seinen Roman nach dieser Schlucht benannt, weil sie die Hauptperson der Geschichte ist. Die Menschen sind Beduinen und Bauern, die ersteren stolz und friedlich, die letzteren von Gewalt und Habgier geprägt. Andere Gestalten stehen in Beziehung zur Welt des Übersinnlichen. Genauso wichtig wie die Menschen sind die Tiere, als verhasste Gegner oder vertraute Mitgeschöpfe. Die Schlucht ist weniger ein geographischer Ort als eine Metapher für Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Schuld und Sühne, Unheil und Versöhnung.

Der Anführer einer Karawane hat bestimmt, dass sein Sohn Abdallah, fast noch ein Kind, das wichtigste der Kamele hüten soll, jenes, das den Wasservorrat transportiert. Der Knabe soll Verantwortung übernehmen, um zum Mann zu werden. Weil er vor sich hinträumt, kommt das Kamel abhanden. Die Karawane irrt durstig in der Wüste umher, verliert die Piste und findet nur dank des Scharfsinns der Tiere den Weg zu einem Fluss und einer Oase. Als sie dann weiterziehen, lässt der Vater den Jungen zur Strafe in der unwirtlichen Schlucht zurück. Auf dem Rückweg, so verspricht er, wird er ihn wieder mit sich nehmen. Jahrzehnte vergehen, aber die Karawane kommt nicht mehr.

Der Junge ist allein mit seinen Kamelen, fern von Eltern und Geschwistern und isoliert in einer fremden Welt. Seit alters her herrscht zwischen Bauern und Beduinen Misstrauen und Feindseligkeit. Dieser Gegensatz hatte schon die Familie des Jungen geprägt. Als die Karawane aufbricht, hat seine Mutter gefordert, den Jungen zu Hause zu behalten: schliesslich liebe er die Arbeit auf den Feldern. Der Vater hatte heftig reagiert: „Du willst, dass er wird wie du: Sklave einer tyrannischen Erde, die er nie verlassen kann, ein Gefangener ihrer Ketten (…) Ich will, dass er frei ist, kein Sklave.“

Wüste, © Claudia Ali

Abdallah erweist sich als Sohn seines Vaters: Notgedrungen muss er mit den Bauern der Oase Umgang pflegen, „aber im tiefsten Innern wusste er, dass ein unüberwindbares Hindernis sie trennte. Sein Charakter, seine schöne Seele waren dabei, sich zu entfalten, und er wollte sie nicht von diesen Menschen und ihrem Dorf verderben lassen“. Sobald sie ihm allzu nahe kommen, zieht er sich zurück: „Ganz deutlich war da etwas, was ihn störte, vielleicht ihr Geruch. Ich ertrage ihren Gestank nicht, hatte er eines Tages seinem jungen Kamel ins Ohr geflüstert.“ Diese Distanz, diese instinktive Abneigung ist auch zwei Generationen später nicht verschwunden. Sein Enkel Ali fragt sich warum: „War das nicht ihr Geruch, der Geruch ihres Schweisses, fast derselbe bei allen (…) ein Schweiss, der verschieden roch von dem seines Grossvaters, seines Vaters und seinem eigenen? (…) eine unüberwindbare Barriere trennte sie von ihm.“ Diese Barriere existiert auch im Kopf der Bauern. Auf der Schlucht lastet ein uralter Fluch, und niemand wagt, sie zu betreten. „Schluchten sind Wohnorte der Dschinnen (…) Lebensraum für böse Geister und Schlangen.“ Beide Seiten halten Distanz. An Festen setzt sich niemand neben den Jungen, und beim Gebet in der Moschee bleibt der Platz neben ihm frei.

Der junge Beduine, stolz auf seine Herkunft und seine moralische Überlegenheit, wird notgedrungen selbst zum Bauern und beginnt, die Schlucht urbar zu machen. Dabei hilft ihm ein junges Mädchen, die Tochter des Hirten Faouzi, die im Dorf immer eine Fremde gewesen war. Mit der Schlucht ist das Schicksal ihres Vaters verknüpft. Als sich eines seiner Schafe dorthin verirrte, hat er das Tabu gebrochen und ist ihm nachgeeilt. Plötzlich starren ihn zwei Augen durchdringend an, brennend wie zwei Feuerkugeln. Faouzi leidet fortan unter Fieberanfällen und Sprachstörungen und stirbt zwei Monate danach. Seitdem ist das Mädchen besessen von dem Gedanken, den Tod des Vaters zu rächen. Abdallah kennt nicht einmal ihren Namen: „Als die Dorfleute von der Tragödie des Hirten erzählten, hatten sie den Namen des Mädchens genannt, aber er hatte ihn vergessen.“ In der Geschichte, die sich über drei Generationen hinzieht, wird sie stets „die Tochter des Hirten“ und später „die Grossmutter“ heissen. Der Junge hatte „in ihr nie ein Objekt der Verführung gesehen, nie einen Blick für die Schönheit ihrer Gesichtszüge oder ihre Reize gehabt. (…) Er hatte gespürt, dass sie wie er an diesen Ort gehörte.“ Weil der Dorfälteste sie bei der Schlucht, in der Nähe des Jungen, herumirren sieht, besiegelt er das Schicksal der beiden und befiehlt, die Hochzeit zu feiern. Die Schlucht ist es, die aus ihnen Mann und Frau gemacht hat. Die Arbeit des Rodens und des Pflanzens kann beginnen, ohne auf die Hilfe der Bauern angewiesen zu sein: „In seinem Innersten hatte er begonnen, die Schlucht ein wenig als sein Eigentum zu betrachten, er wollte sie rein bewahren, sie vor Eindringlingen schützen, die sie mit ihren schmutzigen Füssen zertrampeln und diesen ekelhaften Geruch hineintragen würden, der ihm so zuwider war.“

Im Lauf der Jahre verwandelt sich die Wildnis in einen von Menschen gestalteten Lebensraum. Er hebt Bewässerungskanäle aus, pflanzt Bäume, legt Gärten an und erschafft „ein wahres Paradies“, wo sich der Duft von Orangen-, Zitronen- und Mangoblüten mit dem Geruch der nahen Wüste mischt. Abdallahs Arbeit wird begleitet vom magischen Tun der Hirtentochter, deren Ziel es ist, „diese Erde vom Geist des Bösen zu befreien, der dort wohnte, und von seinen Unheil bringenden Dschinnen“. Die rituellen Handlungen hat sie der „Marokkaner“ gelehrt, ein Mann, der Unsichtbares sehen und manipulieren kann: „er verkehrt mit den Dschinnen und teilt mit einigen sogar das Leben.“ Es gilt einen Mühlstein zu fabrizieren, der aus einem seltenen Stein gemacht sein muss: „Der rote Stein ist der Stein der Dschinnen, hergestellt im Feuer der Hölle.“ Danach heisst es, von jeder Handbreit Boden Erdkrumen, Kieselsteine, Gräser und Pflanzen einzusammeln, sie zu einem Pulver zu zermahlen, das zwischen den Felsen am Eingang zur Wüste ausgestreut wird. Die Mission ist erst beendet, als der Vater ihr im Traum erscheint und ihr mitteilt, dass seine Seele Ruhe gefunden hat.

Wüstenoase, © Claudia Ali

Erst Jahre später, bevor Ignoranz und Habgier zur Katastrophe führen, wird klar, warum hier ein Paradies entstehen konnte. Abdallah und seine Familie hatten die wahren Herren der Schlucht respektiert: „Die Schlangen haben lange vor uns in dieser Schlucht gewohnt, wir sind ihre Gäste.“ „Sie sind hier zu Haus, und man jagt niemanden aus seinem Haus.“ Abdallah schliesst mit ihnen einen Pakt, der erlaubt, dass Menschen und Tiere friedlich beieinander leben: „Die Schlucht hat bis heute einen idealen Ort der Koexistenz zwischen dem Menschen und den anderen Geschöpfen dargestellt.“

Die Beziehung zwischen Mensch und Tier hat eine erotische Komponente. Abdallah ist beim allabendlichen Warten auf die Rückkehr des Vaters eingeschlafen und plötzlich erwacht: „Sein Körper badet in einem Ozean der Wonne (…) Als er die Augen öffnete, erkannte er das Schlangenweibchen. Er sprang auf seine Füsse im Moment, als sie langsam ihren Körper löste, der sich um den seinen geschlungen hatte“. „Das Schlangenweibchen hatte ihn mit seiner Zunge berührt, und er hatte, ohne zu wissen, was er tat, seine Zunge ausgestreckt, der Begegnung mit der Kreatur entgegen.“ Zuneigung herrscht auch zwischen der Schlange und Abdallahs Frau („Die Schlange war meine liebste Freundin, am Morgen nach meiner Hochzeitsnacht ist sie gekommen, um mir Glück zu wünschen“) und zwischen Schlange und Kamel. Die Häufigkeit dieses Motivs zeigt, dass es eine metaphysische Bedeutung hat: es geht um die Utopie von der Aufhebung der Erbsünde.

Freundschaft und Verständnis prägen auch Abdallahs Verhältnis zu seinem Kamel. Vor dem Aufbruch in die Wüste musste sich der Knabe auf dem Viehmarkt ein Kamel aussuchen. Ratlos und unentschlossen irrt er zwischen den Tieren umher. Plötzlich legt sich ein junges Kamel vor seine Füsse. „Es war ein kleines schwächliches Kamel, aber es hatte etwas Seltsames an sich: es sah ihm fest in die Augen.“ Seine kümmerliche Statur bringt den Jungen zum Lachen, aber das Tier folgt ihm so lange, bis er es akzeptiert. Nicht Abdallah hat gewählt, das Tier hat sich ihn zum Herrn erkoren. Ein Leben lang wird nun ein märchenhaftes Einverständnis herrschen. Das Tier versteht, was sein Meister sagt, und wacht darüber, dass er keine Fehler macht. Es weigert sich voranzuschreiten, wenn er die falsche Richtung einschlägt. Und wie wahre Freunde rauchen sie aus derselben Wasserpfeife.

Kamelmarkt, © GEO Reisecommunity

Zur Katastrophe kommt es Jahrzehnte später. Abou Khnegar, der nicht chronologisch erzählt, lässt seinen Roman mit der Schilderung dieses Unheils beginnen. Eine Gruppe von Männern aus dem Dorf, mit Knüppeln und Äxten bewaffnet, die Gesichter von Hass und Abscheu verzerrt, steht der Schlange gegenüber, die nicht mehr verführerisch und zärtlich, sondern äusserst bedrohlich ist. Ali, Abdallahs Enkel, war auf das männliche Tier gestossen, das friedlich im Grase ruhte. Unwillkürlich hatte der Junge einen Schrei ausgestossen, und die Bauern waren herbeigestürmt, weil uralte Ängste in ihnen wachgerufen wurden. Ihr Hass hat Wurzeln, die weit zurückreichen bis in die Anfänge des Menschengeschlechtes: „Endlich verkörperte sich der uralte Fluch vor ihren Augen (…), denn eine ähnliche Schlange - vielleicht war es sogar dieselbe oder mindestens eine aus ihrer Nachkommenschaft - hatte ihrer aller Mutter betrogen und ihr böse Gedanken eingeflösst. Ihretwegen waren sie aus dem Paradies vertrieben worden und hineingestürzt in die Welt, die unter dem Zeichen des Leidens und der Vernichtung steht. Sie, die Schlange, hatte ihrer Stirn den Stempel des Todes aufgedrückt (…) Jetzt mussten sie die Erbsünde auslöschen und die Schlange vernichten (…) Nach ihrer Ausrottung würden sie nichts mehr fürchten und unbesiegbar sein.“ Während Abdallah ein friedliches Zusammenleben der Kreaturen verwirklicht hat, wollen die Bauern durch Mord und Ausrottung des Gegners das Schicksal des Menschen - Leid und Krankheit, Altern und Tod - rückgängig machen und Übermenschen werden.

Ägyptische Kobra (Naja haje annulifera, © Cultura Dorada via Flickr

Der Plan der Bauern scheitert, weil eine geheimnisvolle Person auftaucht, abgezehrt und zerbrechlich, mit Augen, die geschlossen bleiben: „Man konnte meinen, es sei ein Blinder oder ein Erleuchteter, überwältigt von der Trance eines Sufi-Rituals.“ Die Schlange wird magisch angezogen von diesem Mann, der sich bückt und sie keuchend auf seine Schultern lädt. Unterstützt wird er dabei von dem Tier, das sich um seinen Hals, seine Schultern und seinen Oberkörper rollt und den unteren Teil seines Körpers zwischen seinen Schenkeln unterbringt. Der Schwanz des Tieres wird zu einer Art Krücke, damit der schwer Beladene nicht unter seiner Last zusammenbricht. Fassungslos sehen ihm die Männer nach, bis er hinter den Bergen verschwindet.

Dieser „Fakir“ setzt der blinden Zerstörungswut ein Ende, aber das Verschwinden der Schlange bedeutet auch den Verfall des Paradieses, das Abdallah in der Schlucht erschaffen hatte. Umsonst macht er sich auf die Suche nach dem Greis, der die Schlange davongetragen hat. „Sie war die Hüterin des Ortes, sein Talisman, und ohne sie hatte die Schlucht ihre Daseinsberechtigung verloren.“ Das blühende Paradies verfällt. Dornen und Unkraut, Würmer, Vipern und Ungeziefer gewinnen ihr Terrain zurück. Allein der Enkel, selbst schon ein Greis, ist geblieben. Die Bauern spähen aus der Ferne, „um zu schauen, was geschah, und um das Ungeheuer zu erblicken, das darin wohnte, nämlich mich.“

Die Bauern der Oase sind durchaus negativ besetzt. Habgier und Gewalt bestimmen ihre Welt. Im Lauf der Jahre wechseln selbst Abdallahs Kinder und Enkel die Seite, ausser Ali, der seinem Grossvater die Treue hält. Sie heiraten Frauen aus dem Dorf und bauen sich Häuser ausserhalb der Schlucht. Das „Paradies“ erregt dennoch ihren Neid und ihre Habgier. Als der Grossvater in der Wüste verschwunden ist, tauchen die Enkel drohend und fluchend auf. Wenn nur der Grossvater zurückkäme, wünscht sich Ali: „Diese Rückkehr hätte uns von diesen Eindringlingen befreit, die sich bei der Schlucht niedergelassen hatten und ihre Atmosphäre vergifteten mit ihrem ekelerregenden Gestank und ihrem grenzenlosen Hass.“ Beim Anblick seiner Verwandten fragt er sich: „Sind sie nicht auch Kinder dieser Schlucht? Sind sie zu Fremden geworden, genau wie die Leute aus dem Dorf?“

Ein dritter Raum, neben der Schlucht und der Oase, ist die Wüste, ein Ort, den die Kamele besser kennen als die Menschen: „Die Tiere spüren instinktiv die Natur der Wüste, sie wissen, dass sie ihre bösen Ränke schmieden und ausführen kann mit einer Mischung aus Schlauheit, Geschicklichkeit und Grausamkeit.“ Als die Karawane durstig und ziellos durch die Wüste irrt, erinnert Abdallah sich an die Worte seiner Mutter: „diese Wüste, die seine Mutter, wenn sie von ihr sprach, mit einem weiblichen Vampir verglich, besessen davon, die Männer zu betören: wer ihrem giftigen Zauber erlag, konnte sie nicht mehr verlassen, und sie vernichtete ihn, ohne den geringsten Skrupel“. Die Wüste hat mit Tod, Unendlichkeit und Jenseits zu tun. Wer ihr Eingangstor am Ende der Schlucht passiert, kommt nicht mehr zurück. Sie scheint diejenigen zu rufen, deren Aufgabe in der Welt erfüllt ist. Am Ende des Romans macht sich Ali, wie vorher schon sein Grossvater und sein Urgrossvater, auf diesen Weg: „Alles, was ich wusste, war, dass ich vor Sonnenuntergang diesen Ort verlassen und zwischen den beiden Felswänden hindurch aus der Schlucht hinausziehen musste, um mich hineinzuwagen in die Unendlichkeit der Wüste.“

Sonnenuntergang in der Wüste, © Claudia Ali

Was Ali aufbrechen lässt, ist eine Vision, ein Traum, den er träumt an jenem Platz, an dem schon sein Grossvater ein Leben lang auf die Karawane gewartet hat. Ali sieht Männer auf die Schlucht zureiten und vor ihnen die riesige Schlange, welche der Fakir in die Wüste hinausgetragen hatte. Der Führer der Karawane gleicht seinem Urgrossvater, und auch der würdevolle Mann am Ende des Zuges kommt ihm bekannt vor: „Als er mich zurückgrüsste, war ich zutiefst berührt von seiner Stimme, mit allen Sinnen suchte ich, das Rätsel zu durchdringen. Die Stimme erinnerte seltsam an die meines Grossvaters - oder war sie es vielleicht? Plötzlich sieht er einen Jungen auf seinem jungen Kamel, der sich erschrocken umsieht in der Schlucht. Die Vergangenheit ist zurückgekehrt, Personen aus vier Generationen sind am selben Ort vereint. Das Leben vergeht, aber es gibt so etwas wie die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ali, der selbst wie ein Spiegelbild seines Grossvaters war, sieht ihn wie in einer Fata Morgana als den kleinen Jungen, den man vor Jahrzehnten zurückgelassen hat.

Das Motiv der Wiederholung von Ereignissen und der Wiederkehr von Verstorbenen zieht sich durch die ganze Geschichte. Als die Karawane einst in der Schlucht angekommen war, hatte der junge Abdallah „zwischen Unverständnis und Verblüffung hin und her geschwankt, denn dieser Ort kam ihm vertraut vor, als hätte er dort geweilt oder sei hindurchgezogen - jedenfalls hatte er ihn schon gesehen. Aber wann? Bei welcher Gelegenheit?“ Der Knabe hat zum ersten Mal sein Elternhaus verlassen und spürt dennoch dunkel: nichts geschieht zum ersten Mal, Personen und Ereignisse wiederholen sich. Dazu passt, dass sich im Verlauf der Geschichte Menschen, die sich völlig fremd sind, auf wunderbare Weise gleichen. Abdallah ist dem seltsamen Fakir nachgeeilt, der die Schlange davongetragen hat, und hat ihn bei den Felsen am Eingang der Wüste eingeholt. Die Stimme des Fremden kommt ihm vertraut vor, erinnert an die Stimme seines Vaters. Ali und der Hirtentochter, die Abdallah gefolgt sind, bietet sich dann ein phantastisches Schauspiel: „Ein Mann stand oben auf einem Felsen, und ihm gegenüber ein anderer, der sein getreues Spiegelbild zu sein schien: er trug dieselben Kleider, bewegte die Hand mit Gesten, welche die des anderen genau widerspiegelten“ Ali „versuchte herauszufinden, wer von beiden das Original und wer das Spiegelbild sei, aber die Symmetrie war so perfekt, dass man das unmöglich sagen konnte.“ Auf den Spitzen der beiden Felsen stehen zwei Phantome, „zwei völlig identische Silhouetten“. Nachdem sein Spiegelbild verschwunden ist, ohne ihm die Schlange zurückzugeben, zieht der Grossvater ihm in die Wüste nach. Mit Wehmut und Trauer sagt die Grossmutter: „Er kommt zurück“. Es ist, als ob die Vorfahren zurückkehren und uns rufen, wenn unsere Zeit abgelaufen ist. Das Individuum hat kein einmaliges, unverwechselbares Schicksal. Es ist ein Glied in einer Kette des immer Gleichen. Wichtiger als hektisches Tun ist Warten, ein Leben lang: „Hoch oben auf einem der Felsen sitzend, von denen man den Eingang der Schlucht überblickte, hatte ich viel Musse, zu meditieren und die verschlungenen Linien dieser langen Geschichte in meinem Kopf hin- und herzuwenden. (…) Ich hatte nichts anderes zu tun als zu warten, noch und noch, an die Ereignisse zu denken, einmal und noch einmal. Eine geheimnisvolle Intuition sagte mir, dass ich mich sehr lange gedulden musste, bevor der Augenblick kam, auf den ich hoffte.“ Der Augenblick wird kommen, ein Bote aus der Wüste, der einem unserer Vorfahren gleicht, taucht vor uns auf und heisst uns, ihm zu folgen.

Dieses Warten entspringt der Überzeugung, dass es ein Schicksal gibt, dem der Mensch sich fügen muss. „Wenn man doch nur seinem Schicksal entkommen könnte“, steht als Motto über einem Kapitel des Romans. Dass dies nicht geht, spüren die Bauern der Oase, nachdem sie das Schlangenmännchen getötet haben: „Sie wussten, dass sein Blut, als es sie bespritzt hatte, sie mit einem unauslöschlichen Siegel gezeichnet hatte; sie konnten noch so sehr versuchen, es abzuwischen oder abzuwaschen, es würde für immer an ihrem Körper haften, wie das Schicksal, dem man nicht entgehen kann.“ Auch Abdallah, der überzeugt war, dass der Mensch selbst für sein Tun verantwortlich ist, erkennt, dass „eine geheimnisvolle Kraft seine Schritte lenkt zu einem Schicksal, das ihm vorgezeichnet ist.“

Wüstenkinder, © Claudia Ali

Abou Khnegars Roman ist voll von Motiven, die dem westlichen Leser fremd bleiben und sich einer eindeutigen Interpretation entziehen. Gerade darin liegt wohl die Magie der Geschichte. Im August 2013, während wir von „Militärcoup“ und von „Terrorismus“ hören und die Spuren des Blutes sehen, das auf den Strassen Kairos fliesst, spüren wir das Bedürfnis, einzutauchen in das andere, das ewige Ägypten. Wenn Abou Khnegar 2008 von einem Paradies erzählt, in dem Gewalt und Hass überwunden sind, klingt dies fast wie ein Appell an jene, die heute dabei sind, Ägypten zu zerstören.

 

Anmerkungen:
  1. „al-sa’îd“, wörtlich „Hochland, Plateau“, ist die Bezeichnung für Oberägypten (Verb „sa’ida“, steigen, sich erheben)
  2. Die Romane:
    „Fitnat al-Sahrâ‘“ ("Verlockung der Wüste"), „Naga‘ al-al-Salâwa“ ("Der Weiler des Wolfes“), „al-‘Amma Ukht al-Rigâl“ ("Die Tante, Schwester der Männer“) und „Khoor al-Gammâl“ ("Die Schlucht des Kameljungen").
    Die Erzählungen:
    „Hadîth khâss ‘an al-gidda“ ("Privates Gespräch über die Grossmutter"), „Ghuwayat al-scharr al-gamîl“ ("Die Freude am Bösen") und „Kitâb al-hikâyât“ ("Das Buch der Geschichten").
    Außerdem:
    „Muhammad: the Life of the Prophet“ - die Lebensgeschichte des Propheten Mohammed nacherzählt von Ahmad Abo Khnegar (und illustriert von Mohsen Abou El-Azm), Real Reads 2013
  3. „Fi rahâb al-sahrâ‘.“, Kairo 2012
  4. Ein „mûlid“, zugleich Wallfahrt und Jahrmarkt, findet überall in Ägypten, bei Moslems und bei Christen, am Geburtstag des „Lokalheiligen“ statt (hocharabisch „mawlid“, Geburtstag). Darbietungen der Sufi-Orden sind vor allem in den Dörfern Oberägyptens sehr beliebt. Sie heissen „zikr“, Anrufung Gottes, „unablässige Wiederholung bestimmter Worte oder Formeln zum Preise Gottes, oft von Musik und Tanz begleitet“ (H. Wehr, „Arabisches Wörterbuch“).
  5. Der 2008 erschienene Roman ist das einzige Werk von Ahmad Abou Khnegar, das bisher übersetzt worden ist: „Le ravin du chamelier“, traduit de l’arabe par Khaled Osmân, éd. Sindbad, Paris 2012

 

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