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Leben in Luxor Autorenforum: Salim erzählt vom Mond I - Zu Hause

von Astrid Kühnemann (2008). Illustrationen von Hossam El Kady

 

Bildbeschreibungen und Copyright-Informationen erhalten Sie mit Mouseover. Sind die Bildrechte nicht explizit angegeben, liegen sie bei Leben-in-Luxor.de. Externe Links sind mit gekennzeichnet.

 

Exposé zum Kinderbuch ‚Salim erzählt vom Mond‘

 

1. Der Mond antwortet nicht

Yassien stand auf der Dachterrasse des Hauses, in dem er mit Mama, Papa und Ali wohnte. Das Haus befand mitten in der großen Stadt Kairo.
Yassien konnte den Mond sehen. Er stand als rötlich-orange-leuchtende Scheibe über den Mokkatam-Hügeln.
„Mond, ich habe dich schon so oft gesehen“, sagte Yassien. „Du bist so rund und leuchtest so schön. Ich habe dich lieb!“
Der Mond sagte nichts.
„Bitte, lieber Mond, sag doch etwas! Warum stehst du da am Himmel? Warum kann ich dich nur in der Nacht sehen? Wo bist du am Tag? Wieso leuchtest du so?“
Der Mond sagte wieder nichts.
„Lieber Mond, sprich doch mit mir! Ich finde dich doch so schön! Komm doch zu mir und spiel mit mir!“
Wieder blieb der Mond stumm.
„Ach, lieber Mond, ich bin ganz traurig. Warum antwortest du mir nicht?“
Yassien hockte sich in eine Ecke und begann bitterlich zu weinen.
Plötzlich fühlte er die starken Arme von Papa um sich. Er wiegte ihn sanft, bis Yassien mit Weinen aufhören konnte, dann fragte er ihn, warum er denn so sehr weinen müsse. Yassien schluchzte noch einmal und erzählte Papa die Geschichte mit dem Mond.
Papa sah hoch in den Himmel. Der Mond war ein Stück weitergewandert und stand jetzt über dem Nachbarhaus, in dem Yassiens Freund Tarek wohnte. Er war immer noch groß und rund und leuchtete gelbgold.
„Ach Papa, warum redet der Mond denn nicht mit mir?“
„Ja, weißt du, Yassien, das ist sehr schwierig für den Mond. Er muss immer weiter wandern und hat eigentlich keine Zeit für Gespräche. Ich weiß auch gar nicht, ob er überhaupt sprechen kann.“
„Meinst du denn, dass er mich hören kann?“, fragte Yassien.
„Du meinst, ob er dich gehört und verstanden hat? Hm“, machte Papa, „ehrlich gesagt, das weiß ich auch nicht. Ich kenne mich mit dem Mond nicht so gut aus.“
„Aber Papa, du weißt doch sonst immer alles!“
„Na, alles weiß ich eben doch nicht. Aber ich glaube, ich kenne jemanden, der dir ganz viel vom Mond erzählen kann!“
„Wer ist das?“, fragte Yassien interessiert. „Kann er hierher kommen, jetzt gleich?“
„Nein, das kann er nicht. Da musst du leider bis morgen warten. Morgen Abend kann er sicherlich zu uns kommen.“
„Aber warum denn nicht jetzt?“, bettelte Yassien, und plötzlich war er ganz aufgeregt. „Wer ist er denn überhaupt? Ist er ein Freund von dir?“
Papa hatte viele Freunde, die ihn hin und wieder besuchten. Dann saßen sie auf der Dachterrasse und tranken Tee. Manchmal hatte Ali ihnen den Tee hinauf gebracht, und Yassien war mit ihm gegangen. Aber die Gespräche der Männer waren für ihn nicht interessant. Nur wenn Onkel Abdul von seinen Reisen erzählte, dann hörte Yassien genau hin. Onkel Abdul sah lustig aus mit seinem langen Schnurrbart, der an den Enden gezwirbelt war. Onkel Abdul drehte ständig an den Bartenden. Einmal hatte er sie bis zu seinen Ohren gezogen. Aber sie hatten nicht gehalten, sondern waren, schwupps, zu seiner Nase zurückgeschnellt. Vielleicht meinte Papa Onkel Abdul?
Da sagte Papa: „Ja, er ist ein Freund von mir, aber du kennst ihn noch nicht. Warte bis morgen, dann stelle ich ihn dir vor.“
„Och Papa, das ist noch so lange hin! So lange kann ich bestimmt nicht warten!“
„Das glaube ich doch, mein großer Yassien! Du bist schon fünf Jahre alt, da kann man schon sehr gut so lange warten. Und jetzt ab mit dir ins Bett!“
Papa schwang ihn sich über die Schulter und Yassien musste kichern. Sein Papa war so stark, und er wusste einfach alles. Na ja, fast alles. Und wenn er es selbst nicht wusste, dann kannte er jemanden, der es vielleicht wusste. Wer mochte nur derjenige sein, der ihm vom Mond erzählen könnte?
Während Mama ihm beim Ausziehen half, fragte er auch sie, ob sie Papas Freund, der den Mond kannte, schon gesehen hatte. Sie sagte, „Nein“, und zog ihn zum Waschen und Zähneputzen mit ins Bad. Dann kam Papa noch einmal zum Gute-Nacht-Sagen und legte Yassien den Finger auf den Mund, als er noch eine Frage stellen wollte.
In dieser Nacht träumte Yassien, dass der Mond ein Gesicht mit Ohren, Augen, Nase und Mund hatte, und dass er ihm jede Frage, die ihm einfiel, beantworten konnte. Und Yassien fielen immer viele Fragen ein.

© Hossam El Kady

 

2. Papas Freund

Heute hatte Papa frei. Es war Freitag, da schlief er ein bisschen länger als sonst und ging dann in die Moschee gleich um die Ecke zum Beten. Danach war er in seinem und Mamas Zimmer verschwunden, und Yassien und Ali durften ihn auf keinen Fall stören oder gar ins Zimmer hineinkommen. Das hatten sie schwören müssen. Am Abend wäre er fertig, hatte er noch gesagt, dann hatte er die Tür hinter sich zugezogen.
Bis zum Abend war es noch lang, das konnte Yassien an der großen Uhr in der Küche ablesen. Es war gerade drei Uhr nachmittags. Wann wollte Papa denn mit seinem Freund sprechen oder ihn holen, damit er vom Mond berichten könnte? Hatte Papa sein Versprechen von gestern vielleicht vergessen?
Yassien stellte sich vor die Tür und schrie so laut, dass Papa es im Zimmer bestimmt hören konnte: „Papa, du wolltest doch deinen Freund holen, der mit dem Mond gesprochen hat! Wann holst du ihn denn?“
So wie der Mond gestern, sagte auch Papa jetzt kein Wort. Nur ein Brummen konnte Yassien hören.
„Papa? Bitte denk an deinen Freund! Es ist bald Abend!“
Diesmal kam eine Antwort von Papa: „Yassien, ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen, aber lass mich jetzt in Ruhe.“
Yassien war den Tränen nahe. Er rannte zu Mama. Sie war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. „Mama, Papa hat vergessen, dass er heute seinen Freund hierher bringen wollte, damit er vom Mond erzählen kann. Mama, bitte, sag du es ihm noch mal!“ Er schluchzte fast.
Mama versuchte, ihn zu trösten. „Papa vergisst seine Versprechen nicht. Hast du das schon einmal erlebt? Nein, na siehst du. Komm, hilf mir, die Möhren zu waschen. Das kann keiner so gut wie du!“

Langsam verging der Nachmittag. Yassien wurde immer aufgeregter. Papa kam einfach nicht aus dem Zimmer heraus! Und draußen ging die Sonne schon beinahe unter.
Da! Endlich öffnete Papa die Tür. Er trug ein Bündel unter dem Arm.
„Ich bin bald zurück, muss nur schnell etwas erledigen!“
Und schwupp, weg war er.
Yassien sah ihm nach und wieder schossen ihm die Tränen in die Augen. „Papa?“, sagte er leise.
„Komm mit aufs Dach“, forderte Ali ihn auf. „Wir können nach dem Mond sehen. Vielleicht ist er schon da.“
„Nein, ich will nicht.“ Yassien war so traurig darüber, dass Papa anscheinend überhaupt nicht mehr an sein Versprechen dachte. Er rannte in das Zimmer, das er mit Ali teilte, und warf sich aufs Bett. Das war so ungerecht! Versprechen darf man nicht brechen, hatte Papa immer gesagt.
Und nun machte er selbst es, brach sein Versprechen, wo er doch wusste, dass Yassien so gern mehr über den Mond wissen wollte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Wohnungstür. Es war ein Poltern, als ob jemand gegen den großen Schrank mit Papas Werkzeug gestoßen wäre.
Yassien horchte. Da, Papa rief ihn!
Aufgeregt lief er zur Tür und schaute hinaus.
Da stand Papa, rief noch einmal „Yassien!“ und hielt die Arme auf.
Yassien zögerte nicht, sondern rannte zu ihm und ließ sich von Papas Armen umfangen.
„Nicht wahr, Papa, du hast nicht vergessen, was du mir gestern versprochen hast?“ Yassien schaute Papa an.
„Nein, Yassien, das habe ich nicht! Ich habe meinen Freund für dich geholt. Hier ist er.“
Papa setzte Yassien ab und zeigte auf eine Figur neben sich. Es war eine Puppe, halb so groß wie Yassien. Yassien war verwirrt. Mit dem hatte Papa bestimmt noch nie Tee getrunken!
„Das ist dein Freund?“, fragte er langsam.
„Ja“, sagte Papa, „und er ist immer für dich da. Er ist einer der Mondzwerge. Es gibt nur wenige Mondzwerge, und dieser hier ist ganz allein für dich gekommen. Er bleibt so lange, wie du ihn brauchst.“
„Aber Papa, er ist doch nur eine Puppe!“ Yassien war empört. Wie sollte ihm denn eine Puppe vom Mond erzählen?
„Ja, das denkst du!“, lachte Papa. „Aber warte einmal ab, wenn er neben deinem Bett steht! Dann wirst du sehen, was passiert.“
„Aha“, machte Yassien ratlos und ein bisschen ängstlich. „Und was passiert dann?“
„Das verrate ich dir nicht.“ Papa schüttelte den Kopf. „Das wirst du selbst herausfinden! Heute Abend schon.“
„Heißt der Mondzwerg einfach Mondzwerg?“ Yassien wusste immer noch nicht, was er denken sollte.
„Frag ihn nachher, wenn du im Bett liegst“, meinte Papa.
Zweifelnd guckte sich Yassien den Mondzwerg genauer an. Er sah fast aus wie ein Kind, obwohl er natürlich viel kleiner war. Auf dem Kopf trug er eine Mondsichel, die beinahe wie die Hörner der Kühe aussahen, die Yassien einmal gesehen hatte, als er mit Papa und Ali Onkel Yussuf auf dem Land besucht hatte. Aber die Mondsichel war gelb, daran erkannte Yassien, dass es keine Hörner waren. Außerdem hatte der Mondzwerg eine blaue Galabiyya an, an der
schrecklich viele kleine silberne und goldene Plättchen im Licht glitzerten wie Edelsteine. Es waren so viele, dass Yassien sie überhaupt nicht zählen konnte. Das sah sehr schön aus, fand er. Und erst seine Schuhe! Er trug vorn langgezogene und nach oben gebogene Schuhe, die wie die bequemen Pantoffel aussahen, die Mama einmal für Ali mitgebracht hatte. Nur waren die braun gewesen, während diese hier rot schimmerten und ebenfalls mit diesen wundervoll glitzernden Plättchen bestickt waren!
Yassien gefiel der Mondzwerg, aber er hatte auch ein bisschen Angst vor ihm.

© Hossam El Kady

 

3. Der Mondzwerg

An diesem Abend wollte Yassien zuerst gar nicht ins Bett gehen. Er sah sich den Mondzwerg immer wieder genau an und er gefiel ihm jedes Mal besser. Trotzdem hatte er immer noch Angst, wenn er daran dachte, dass der Mondzwerg direkt neben seinem Kopfkissen sitzen und ihm beim Schlafen zusehen würde, ja vielleicht sogar lebendig würde. Er zog das Waschritual in die Länge und fand immer einen neuen Grund, warum er noch einmal aufstehen musste. Erst hatte er noch Durst, dann wollte er sich den Mond draußen nur ganz kurz anschauen, danach wollte er schon mal von seinem Frühstücksfuul probieren.
Endlich wurde es Mama zu bunt. „Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst“, sagte sie, „dann nehmen wir den Mondzwerg mit auf die Dachterrasse. Vielleicht findet er von dort den Weg zurück zum Mond!“
Das wollte Yassien nun doch nicht.
„Bleibst du noch ein Weilchen bei mir, Mama?“, bat er.
„Nein, Yassien“, erwiderte Mama. „Ich habe noch in der Küche zu tun.“
„Kann Ali nicht schon ins Bett kommen?“, fragte Yassien weiter. Er wollte mit dem Mondzwerg einfach nicht allein bleiben.
„Ali kommt in einer Stunde nach, das weißt du. Ich werde dir Papa schicken. Und nun schlaf gut, mein Yassien!“ Sie gab ihm einen Kuss und ging aus dem Zimmer hinaus.
Wenig später erschien Papa.
„Warum willst du denn heute nicht einschlafen, Yassien? Liegt es am Mondzwerg?“, wunderte sich Papa.
„Ich weiß nicht. Ähm, ich glaube schon. Kann er nicht woanders sitzen, Papa?“
„Na sicher kann er das. Wo soll er denn sitzen?“
„Dort auf der Kommode.“
Papa nahm den Mondzwerg vorsichtig hoch und setzte ihn auf die Kommode, die Yassiens Bett gegenüber stand. „So besser?“, fragte Papa. Yassien nickte.
„Das ist ein guter Platz. Von dort aus sieht er dich und du siehst ihn auch. Und jetzt will ich dir noch eine Geschichte erzählen.“
„Au ja“, Yassien kuschelte sich gemütlich in seine Kissen und hörte zu.
Papa erzählte: „Es war einmal ein kleiner Mann. Er besaß nur die Kleider, die er am Leib trug. Das waren eine himmelblaue Galabiyya, auf die er sehr achtete und die er sehr sauber hielt, und seine Schuhe. Seine Schuhe sahen aus wie die Pantoffeln der Sultane, der Herrscher vergangener Zeiten. Sie waren von karmesinroter Farbe, vorn zu einem Schnabel gebogen und hochgezogen. Der kleine Mann, er hieß Salim, war unglücklich, weil niemand ihn mochte. Alle schauten auf ihn hinunter und hänselten ihn wegen seiner Größe. Auch die Mädchen kicherten, wenn sie ihn sahen. Deswegen hatte er noch keine Frau gefunden.
Eines Nachts saß er auf seinem Dach, meinte, er wäre der unglücklichste Mensch auf Erden, und weinte laut über seinen Kummer.
Da hörte er eine tiefe Stimme. ‚Guten Abend, Salim. Ich weiß, du bist sehr traurig.’
Salim schaute sich um, weil er wissen wollte, wer gesprochen hatte. Er bemerkte, dass der Mondüber ihm stand. Sonst war niemand da.
Die Stimme sprach weiter: ‚Du musst nicht weinen, Salim. Glaube mir, nur weil die meisten Menschen größer sind als du, sind sie nicht notgedrungen auch besser.’
Salim war verwirrt. Wer redete da mit ihm? Es war doch keiner bei ihm auf dem Dach!
Die tiefe Stimme versuchte immer noch, ihn zu trösten: ‚Ich sehe und höre die Menschen täglich und ich kenne auch ihre Träume in der Nacht. Glaub mir, sie sind genauso glücklich oder unglücklich wie du, mein Salim.’
Salim wusste immer noch nicht, wer da mit ihm redete, bis er sein Gesicht zum Himmel hob. Es war der Mond! Der Mond wollte ihn trösten!
Salim konnte es nicht glauben. Der Mond, der ihm immer so unerreichbar fern vorkam, nahm sich seiner Kümmernisse an? Wie konnte das sein? Und wieso fand der Mond ihn, den die Menschen den Winzling und den Zwerg nannten, für Wert, überhaupt das Wort an ihn zu richten?
Salim hatte viele Fragen, die der Mond ihm beantwortete. Er sagte: ‚Du bist der einzige Mensch, zu dem ich spreche, Salim, denn du bist ein besonderer Mensch. Ich mag dich, auch wenn du klein bist. Deine Größe ist doch nicht wichtig. Du kannst trotzdem glücklich sein. Und weil ich weiß, dass du sehr viele Gaben hast, möchte ich dir einen Vorschlag machen. Außer dir kann kein Mensch mit mir reden oder meine Worte verstehen. Ich möchte, dass du die Geschichten, die ich dir erzählen werde, an die Kinder der Menschen weitergibst. Die Kinder mögen Geschichten vom Mond, und ich habe viel zu berichten. Die Kinder werden meine Geschichten auch richtig verstehen, nicht wie die Erwachsenen, die erst gar nicht hinhören, weil sie sich nur für ihren Vorteil interessieren. Also, Salim, wie ist deine Entscheidung? Willst du den Kindern von mir erzählen?’
Salim überlegte. ‚Was genau müsste ich tun, wenn ich mich in deinen Dienst begebe, lieber Mond?’
Der Mond antwortete: ‚Du müsstest mir die nächsten 354 Nächte zuhören, denn ich will dir genau 354 Geschichten erzählen. Danach werde ich dir eine Kappe schenken, die dich verzaubern wird. Trägst du sie, schrumpfst du und erscheinst den Menschen als Puppe. Nimmst du die Kappe ab, wirst du Salim, der Geschichtenerzähler, sein, der abends am Bett den Kindern von den Erlebnissen des Mondes erzählt. Du bist lebendig und kannst alle ihre Fragen beantworten.’
Salim dachte nach. Das hieße, er müsste sein Dorf verlassen und würde sein Leben ganz anders verbringen, als er bisher gedacht hatte. Aber da er sowieso nicht Bauer oder Kaufmann werden wollte, gab er sein Einverständnis.
354 Nächte lang berichtete der Mond Salim, was er gesehen und gehört hatte, und Salim prägte sich die Geschichten sehr genau ein. In der letzten Nacht überreichte der Mond ihm die Kappe, die Salim von nun an tragen sollte, wenn er als Geschichtenerzähler unterwegs war. Sie war mit einer goldenen Mondsichel verziert und Salim fand sie wunderschön.
„Achte sorgsam darauf, dass du sie bei dir behältst. Wenn du sie aufgesetzt hast, kannst nur du sie wieder abnehmen, aber wird sie dir entwendet, wenn du sie nicht auf dem Kopf hast, sind alle meine 354 Geschichten verloren“, sagte der Mond. „Und wenn du mich brauchst, dann stelle dich des Nachts auf ein Dach und rufe nach mir. Ich komme, so schnell ich kann, zu dir, mein Freund!“

Die letzten Worte hörte Yassien schon nicht mehr. Er war eingeschlafen. Papa küsste ihn auf die Stirn und verließ den Raum, gerade als Ali eintrat, um zu Bett zu gehen.
„Schlaf gut, mein Sohn“, sagte Papa leise zu Ali und ging hinaus.

© Hossam El Kady

 

4. Elefant und Maus

„Mama, ich habe von Salim, dem Mondgeschichtenerzähler, geträumt“, berichtete Yassien am nächsten Morgen. „Er sah aus wie der Mondzwerg! Und als der Mond ihm die Mondsichelkappe aufgesetzt hat, da hatte er plötzlich tausend kleine Glitzersterne an seiner Galabiyya und an seinen schönen roten Sultanspantoffeln.“
„Hast Du gut geschlafen, Yassien?“, fragte Mama.
„Ja, Mama, und ich weiß jetzt auch, wie aus dem unglücklichen Salim der Mondgeschichtenerzähler geworden ist! Ich wollte ihn heute Morgen etwas fragen, aber er hat nicht mit mir gesprochen.“
Mama hörte ihm nur halb zu, denn sie hatte es eilig, wie jeden Morgen. Papa und Ali waren schon weg, Ali zur Schule und Papa zu seiner Arbeit. Papa würde Yassien vom Kindergarten abholen. Mama brachte ihn jeden Morgen dorthin. Der Kindergarten lag auf ihrem Weg zur Arbeit. Jetzt ermahnte sie Yassien: „Iss bitte, wir sind spät dran.“
Den ganzen Tag über war Yassien beschäftigt. Er dachte zwar manchmal an den Mondzwerg, aber er erzählte seinen Freunden nichts. Das war sein Geheimnis.
Am Abend nach dem Essen ging er mit Papa auf den Balkon. Sie guckten zum Mond hinauf, der inzwischen die Form einer dicken Sichel angenommen hatte und weiter von Yassiens Haus entfernt war als an den Tagen vorher.
„Papa, wenn Salim Salim ist und nicht der Mondzwerg, muss er dann nicht auch essen?“, fragte Yassien.
Papa überlegte. „Das kann schon sein. Ich weiß es nicht. Am besten, du fragst ihn.“
„Ja, gut“, sagte Yassien. „Und Papa, wie groß wird Salim, wenn er die Mondzwergkappe abnimmt?“
„Ich erinnere mich nicht genau, aber ich glaube, er reicht mir dann bis zur Taille. Bis hierher.“ Papa zeigte auf die Mitte zwischen seiner Hüfte und der Schulter.
Yassien schaute Papa nachdenklich an. Papa war sehr groß, fand er. Er konnte mit seinen Händen fast an die Decke in Abu Hosseins Laden fassen, und die war ungefähr zwei Meter fünfzig hoch, hatte Abu Hossein einmal gesagt. Wenn Yassien sich gerade hinstellte, konnte er seinen Kopf an Papas Hüfte schmiegen. Das tat er manchmal, wenn er nahe bei Papa sein, aber nicht auf den Arm genommen werden wollte. Papa strich ihm dann über den Kopf, das mochte Yassien gern.
„Schlafenszeit, Yassien“, sagte Papa jetzt und schwenkte ihn so durch die Luft, dass Yassien lachen musste und weggeflogen wäre, wenn Papa ihn nicht festgehalten hätte. Papa schwenkte ihn weiter, Schritt für Schritt, bis er am Waschbecken stand. Nach dem Waschen zog Yassien sich aus und kroch in sein Bett. Mama und Papa deckten ihn zu und sagten ihm Gute Nacht.
Sie löschten das Licht. Yassien drehte sich zum Mondzwerg um, der auf seinem Platz auf der Kommode saß. Er konnte ihn nicht erkennen, denn der Raum lag im Dunkeln.
„Guten Abend, Mondzwerg“, sagte Yassien. „Redest du jetzt mit mir? Warum hast du heute Morgen nicht mit mir gesprochen? Soll ich das Licht wieder anmachen? Ich kann dich gar nicht sehen.“
Ein zartes Klirren war zu hören. „Guten Abend, Yassien“, sagte eine leise, klare Stimme.
„Nein, bitte lass das Licht aus. Und schließ deine Augen, sonst kann ich nicht vom Mond erzählen, und das willst du doch, nicht wahr?“
„Ja, bitte, Mondzwerg, bitte erzähl mir vom Mond! Ich mach sofort meine Augen zu. Sie sind ganz fest zu!“, beteuerte Yassien. „Ich möchte so gern wissen, warum der Mond nichts zu mir gesagt hat!“
„Ich werde dir gerne vom Mond erzählen und ich werde auch deine Fragen beantworten, aber vorher habe ich noch eine Bitte“, erklang die leise Stimme wieder. „Nenn mich nicht Mondzwerg. Das ist so, als ob du zu deinem Onkel Schreiner sagst, weil er ein Schreiner ist. Du kennst ja meinen Namen schon. Ich heiße Salim.“
„Ja, Salim“, erwiderte Yassien mit fest geschlossenen Augen. „Bitte sag mir, warum der Mond nicht mit mir gesprochen hat.“
„Lieber Yassien“, sagte Salim, „normale Menschen können den Mond nicht hören. Sie können ihre Ohren nicht auf seine Stimme einstellen.“
„Aber du kannst es!“, rief Yassien. „Wieso kannst du ihn hören?“
„Ich hatte als kleines Kind eine schwere Krankheit. Sie hat zweierlei bewirkt. Ich bin nicht weiter gewachsen. Das war eine schlimme Folge. Die gute Wirkung war, dass ich seitdem viel besser hören kann als alle Menschen, die ich kenne. Und um den Mond zu verstehen, muss man sehr gute Ohren haben. Die Tiere haben solch gute Ohren, aber die Menschen nicht.“
Yassien hatte genau zugehört. Jetzt war er erstaunt. „Die Tiere können den Mond verstehen?“
„Ja, Yassien, jedes Tier versteht ihn und spricht mit ihm in seiner Sprache. Eines Abends rief ein Elefant nach dem Mond. Er lebte in einer Savanne in Afrika. Das ist eine riesige Wiese, in der ab und zu Bäume und Sträucher stehen und viele große und kleine Tiere leben, aber nur ganz wenige Menschen. Der Elefant beklagte sich beim Mond, dass er an seinem Schlafplatz
neben einem großen alten Affenbrotbaum immer wieder von einer Maus gestört würde. Kaum war er eingeschlafen, da raschelte sie neben seinem Ohr, sodass er sofort wieder erwachte und nicht mehr einschlafen konnte.“
„Und wie sollte der Mond ihm helfen?“ fragte Yassien neugierig mit einem Gähnen.
„Das wusste der Elefant auch nicht. Er wollte, dass die Maus mit den Geräuschen aufhörte, und das sagte er dem Mond, als er ihn um Hilfe bat. Der Mond fragte ihn, ob er schon einmal mit der Maus gesprochen hätte. Nein, sagte der Elefant, denn er könne sie nicht sehen. Sie sei so klein und schwarz, und seine Augen seien so schlecht. Daraufhin riet der Mond ihm, sich schlafen zu legen, und wenn er wieder Mausegeräusche höre, solle er ganz leise fragen, wer da sei. Er, der Mond, würde aufpassen. Der Elefant tat, was der Mond ihm geraten hatte. Als die Maus wieder raschelte, sprach er sie mit seiner leisesten Stimme an. Die Maus piepste, sie versuche jeden Abend, in ihr Nest zu kommen, aber immer läge der Elefant mit seinen großen Ohren genau auf dem Eingang. Jedes Mal sei sie gezwungen, einen neuen Gang zu graben, deshalb habe sie so geraschelt. Der Elefant versprach ihr daraufhin, von nun an, immer wenn er ein Rascheln höre, zur Seite zu rücken, damit die Maus in ihr Loch kriechen könne. Am nächsten Abend trompetete er ein lautes Dankeschön in den Himmel, dorthin, wo er den Mond erkennen konnte. Der Mond freute sich, dass das Problem so einfach zu lösen gewesen war.“
Yassien war inzwischen sehr schläfrig geworden. Er träumte bereits von einem großen, grauen Elefanten, der mit seinen großen, grauen Ohren auf einem kleinen Mauseloch lag, als ein zartes Klirren erklang und Salim flüsterte: „Schlaf gut, mein Kind.“

© Hossam El Kady

 

5. Sami vom Sinai

Als Yassien an diesem Abend ins Bett ging, schloss er sofort die Augen.
„Lieber Salim“, flüsterte er, „warum muss ich immer meine Augen schließen, bevor du erzählst?“
Ein zartes Klirren ertönte und eine leise Stimme antwortete: „Weißt du, Yassien, ich kann mich nicht an die Geschichten vom Mond erinnern, wenn du sie geöffnet hast.“
„Ach so“, Yassien verstand Salim. Ihm erging es ähnlich, wenn er ein Gedicht laut vorsprechen sollte und alle Kinder schauten ihn an. Dann fiel ihm seine Frage vom Vorabend ein.„Aber sag, Salim, hast du auch Hunger so wie ich?“
„Yassien, ich freue mich, dass du dich um mich sorgst. Ich danke dir dafür! Ja, wenn ich die magische Mondsichelkappe abnehme, dann habe ich auch Hunger, genau wie du und alle Menschen. Aber sonst nicht.“
„Hast du jetzt gerade Hunger, Salim?“ Yassien erinnerte sich an die leckere Pizza, die Mama gebacken hatte. „Soll ich dir etwas von unserem Essen holen?“, fragte er eifrig und wollte fast die Augen öffnen und die Bettdecke zurückschlagen. Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er das nicht durfte.
„Nein, vielen Dank, Yassien. Im Moment nicht. Ich werde dir sagen, wenn ich etwas brauche, ja? Dazu fällt mir die Geschichte von dem hungrigen Kind ein, die der Mond mir erzählt hat. Liegst du gut? Kann ich beginnen?“
Yassien rupfte kurz an seinem Kissen und nickte mit geschlossenen Augen. Er mogelte kein bisschen. Salim erzählte:
„Eines Nachts stand der Mond voll und rund über Ägypten. Auf der großen Halbinsel, die die Menschen Sinai nennen, warf er sein helles Licht über den Wüstensand. Die Menschen, die dort in der Wüste leben, heißen Beduinen, und sie können die Hitze des Tages und die Kälte bei Nacht gut aushalten. Einige dieser Beduinen leben heute noch in Zelten aus schwarzen Ziegenhäuten, wenn sie mit ihren Kamele und Schaf- und Ziegenherden zu den Weidegebieten wandern. Die Weiden liegen weit weg von den Küsten, wo es reichlich Wasser und damit auch Nahrung gibt. In der Wüste ist nur ganz wenig Wasser vorhanden und das müssen sich die Menschen mit den Tieren teilen. Deshalb sind die Tiere ihr kostbarster Besitz.
In einer großen Beduinenfamilie lebte ein Junge, der Sami hieß. Er war acht Jahre alt und hatte von seinem Vater, seinem Großvater und seinen Onkeln bereits viel gelernt. Er wusste, wie man Tiere gut pflegt, wie man Kamele zusammenbindet, damit sie in einer Reihe hintereinandergehen und nicht weglaufen können, und wie man eine Ziegen- und Schafherde hütet. Er kannte alle Tiere der Familie, auch die Hunde, die beim Hüten halfen.
An diesem Abend, an dem der volle Mond auf die Halbinsel Sinai schien, lag Sami hungrig im Zelt. Er hatte kein Abendbrot bekommen, und das lag an am Said.
Sami war mit ihm, zwei Cousins und einem weiteren Onkel auf dem Rückweg vom Markt in Nakhil, wo sie ihre besten Ziegen und Schafe für das bevorstehende Opferfest verkauft hatten. In zwei Wochen würde eid el-kebir stattfinden, und alle Gläubigen würden dafür Schafe und Ziegen schlachten. Zum Ausgleich für die Herde hatten Sami und seine Verwandten fünf Lämmer gekauft. Den Lämmern wurden die Beine zusammengebunden, und Ibrahim, einer von Samis Cousins, lud sie auf die Rücken der Kamele, denn sie waren zu klein, um den ganzen Weg zu laufen. Abends durften sie im Lager herumtollen, allerdings mit zusammengebundenen Vorderläufen. Sami sollte sie hüten, hatte am Said befohlen. Das tat Sami gern, aber er hatte Mitleid mit den kleinen Tieren, die sich kaum bewegen konnten. Daher lockerte er bei allen das Band, sodass sie mehr Bewegungsfreiheit hatten. Sami behielt sie im Auge, solange das Lager aufgeschlagen wurde, und setzte sich dann zum Essen an das Feuer. Er hüllte sich mit einer warmen Decke ein, denn in der Wüste ist es kalt, sobald die Sonne untergegangen ist.
Während er in sein Brot biss und ein paar Datteln aß, war es passiert. Der Mond hatte es gesehen, aber er konnte Sami nicht warnen: Eines der Lämmer war weggehumpelt! Der Schein der Flammen hatte es erschreckt. Die anderen kleinen Schafe hatten sich an eines der Kamele gekuschelt, aber das fünfte Lamm war nicht zu finden. am Said war furchtbar böse geworden.
Mit dröhnender Stimme hatte er Sami zu sich gerufen, der zitternd vor ihm stand und eine gehörige Tracht Prügel befürchtete.
Doch am Said schimpfte zuerst: ‚Du weißt nicht, wie teuer so ein Lamm ist, Sami, und wie wichtig es für das Überleben der Familie im Winter sein kann!’
Und dann verkündete er die Strafe. Sami bekam an diesem Abend kein Essen mehr und auch am nächsten Morgen nicht. Sami hatte am Morgen zuletzt gegessen, und sein Magen knurrte. Bis zum nächsten Abend war eine lange Zeit!
‚So erfährst du, wie es ist, hungrig zu sein, und ich hoffe, dass du dir das zu Herzen nehmen und in Zukunft besser auf die kostbaren Tiere der Familie Acht geben wirst!’, donnerte am Said und ließ Sami stehen. Sami traute sich nicht, dem Onkel anzubieten, dass er das Lamm suchen könne, solche Angst hatte er vor ihm. Doch der Gedanke an das kleine Lamm ganz allein in der Wüste ließ ihn nicht los.
Als alle anderen schliefen, stand Sami leise auf und ging in die Wüste hinein. Von seinem Großvater hatte er gelernt, dass man sich am besten in immer größeren Kreisen um das Lager bewegt, wenn man etwas sucht, und das tat er jetzt. Der Mond erleichterte ihm seine Aufgabe. Er schien so hell, dass jeder Stein zu sehen war. Wie anders die Landschaft im Mondlicht aussah! Gar nicht wirklich, fand Sami, aber trotzdem schön.
Der Mond hatte Sami natürlich aufstehen sehen. Er versuchte, so viel Licht wie möglich in die Wüste zu schicken, denn er wusste, dass Sami etwas sehr Gefährliches tat. Wenn er sich ebenfalls verirrte, dann würde er verhungern und verdursten. Der Mond konnte außerdem sehen, dass das Lamm nicht sehr weit vom Lager seiner Hirten entfernt in einer Mulde lag. Es war schnell müde vom Laufen gewesen und hatte sich in die Erdvertiefung gekuschelt. Auf diese Mulde richtete der Mond seinen Schein und Sami kam tatsächlich auf seinem dritten Rundgang dorthin.
Er entdeckte das kleine Schaf im Vorbeigehen. Die Farbe seines Fells glich dem Sandboden, und um ein Haar hätte Sami es übersehen. Doch es hob in dem Moment den Kopf, als er zu der Mulde hinguckte. Erleichtert hob Sami es auf und legte es sich um die Schultern. Dann versuchte er herauszufinden, in welche Richtung er zurückgehen musste. Er stieg auf eine niedrige Sanddüne ein paar Meter entfernt, konnte aber das Lager nicht entdecken.
Der Mond war in der Zwischenzeit weitergewandert, daher waren die Schatten länger geworden. Aber er verfolgte das Geschehen von seinem Platz am Himmel aus. Jetzt wollte er Sami zurufen, er solle laut schreien. In der Wüste tragen Klänge sehr weit, und Samis Cousins und seine Onkel würden vom Lärm aufwachen. Doch der Mond kann ja nicht mit Menschen sprechen.
Sami aber hatte wirklich viel von seinem Großvater gelernt. Der Großvater hatte ihm auch immer wieder erklärt, dass man in der Wüste an einem Platz bleiben und laute Geräusche machen müsse, wenn man sich verirrt habe, vor allem nachts. Also blieb Sami auf der Düne stehen und fing an zu rufen. Er rief immer wieder abwechselnd die Namen seiner Onkel und seiner Cousins: ‚am Said, am Khamis, ya Ibrahim, ya Islam!’
Nach einer Weile, die ihm sehr lang vorkam, hörte er Stimmen und dann auch Schritte. Er schrie wieder, diesmal: ‚Hier bin ich! Hier bin ich!’
Endlich sah er seine beiden Onkel auf sich zu kommen und war so erleichtert, dass er weinen musste.
am Said sagte kein Wort, sondern verpasste Sami eine feste Ohrfeige, als er vor ihm stand. Dann umarmte er ihn. Er und am Khamis brachten ihn und das Lamm zurück zum Feuer, wo die beiden Cousins aufgeregt warteten. Sie fanden, dass Sami sehr mutig gewesen war, so allein bei Nacht in die Wüste zu gehen, um ein verirrtes Lamm zu suchen.
‚Und du bekommst heute Nacht trotzdem nichts zu essen, auch wenn du das Lamm gefunden hast!’, grollte am Said. ‚Wie kannst du dich so in Gefahr bringen?’ Doch es klang ein bisschen mehr froh als zornig.
Der Mond hatte alles miterlebt und freute sich mit den Beduinen darüber, dass niemandem ein Leid geschehen war.
Sami passte von nun an sehr gut auf die Tiere auf, die er zu hüten hatte. Er ging nie wieder allein in die Wüste.“

Yassien seufzte laut auf. Er war genau so erleichtert wie die Hirten, dass alle wieder beisammen waren. Doch kaum hatte Salim das letzte Wort ausgesprochen, da schlief Yassien ein.
„Schlaf gut, mein Kind“, sagte Salim.
In diesem Moment öffnete Ali die Tür, um zu Bett zu gehen. Er vernahm ein zartes Klirren, das vom Wind draußen kommen mochte. Ali achtete nicht darauf, legte sich hin und war gleich eingeschlafen.

© Hossam El Kady

 

6. Mondgesicht

„Papa, hat der Mond Augen und eine Nase und einen Mund?“ Yassien kaute auf einem Stück sambusik bil gibna, Teigtasche mit Käse.
„Yassien, mach bitte den Mund leer, bevor du etwas sagst“, ermahnte Mama ihn.
„Ja“, sagte Yassien. Er kaute schneller. „Und Papa, hat er Augen? Und einen Mund? Und eine Nase?“
„Ich schlage vor, wir gehen nach dem Essen auf die Dachterrasse und schauen nach“, antwortete Papa.
Yassien schluckte das letzte Zipfelchen sambusik hinunter, schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und stand neben Papa.
Mama wurde ein bisschen böse. „Yassien, wir sind noch nicht fertig mit dem Essen. Setz dich wieder und warte, wenn du satt bist!“
„Aber Mama, ich will doch mit Papa den Mond angucken!“
Jetzt antwortete Papa: „Nein, setz dich noch einmal hin! Ich will in Ruhe zu Ende essen. Dann gehen wir.“
Es blieb Yassien nichts anderes übrig, als sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Hoffentlich war Papa bald fertig! Das dauerte ja ewig! Jetzt nahm er noch ein Stück sambusik und sprach mit Ali über ein Fußballspiel, das sie sich zusammen ansehen wollten. Das war gemein! Warum beeilten sie sich nicht? Yassien stieß mit dem Fuß gegen das Stuhlbein, dann gegen das Tischbein.
„Yassien, hör bitte auf! Ich bin gleich soweit, solange musst du schon warten. Auch Ali darf mal erzählen.“ Papa ließ sich nicht stören.
Mama stand auf und holte einen Löffel aus der Küche. Papa und Ali lachten. Yassien wurde immer ungeduldiger.
Endlich – endlich – war Papa fertig. „Also komm, Yassien. Willst du auch mitkommen, Ali?“
Yassien wollte nicht, dass Ali mit auf die Dachterrasse ging, nein, das wollte er ganz und gar nicht. Wenn Ali dabei war, konnte er nicht richtig mit Papa reden. Ali redete immer dazwischen und wusste alles besser.
„Nein, will ich nicht“, antwortete Ali und steckte seine Nase in ein Buch über Autos.
Yassien atmete auf. „Komm, Papa! Nun komm schon!“ Nicht, dass Ali es sich noch andersüberlegte!
Oben auf der Dachterrasse sahen sie den Mond sofort. Rund und hell leuchtete er vom dunklen Himmel.
„Nun, Yassien, siehst du ein Gesicht, wenn du den Mond anschaust?“
„Nein“, Yassien war enttäuscht. „Aber in meinem Traum hatte er eins! Wieso hatte er da eins, und jetzt hat er keins?“
„Schau mal ganz genau hin, Yassien. Wenn du ganz genau hinguckst, kannst du da“ – Papa zeigte in die Mitte der leuchtenden Kugel – „etwas wie eine Nase sehen, und da etwas wie Augen.“ Papa deutete ein bisschen höher mit seiner Hand. „Aber es ist schwierig zu erkennen. Das sagen sogar die Wissenschaftler.“
„Was ist Wissenschaftler?“ wollte Yassien wissen.
„Ein Wissenschaftler ist ein Mann, der den Mond durch ein Fernrohr ansieht und dann anderen Menschen darüber berichtet. Mit einem Fernrohr sieht er alles genau, aber so genau, dass er sagen könnte, der Mond habe ein Gesicht, kann er doch nicht sehen.“
„Och, das ist aber schade. In meinem Traum hatte der Mond ein Gesicht, Papa!“
„Was hältst du davon, wenn du Salim danach fragst, hm?“ Papa schaute den Mond noch einmal an und dann Yassien.
„Ja, das mache ich! Salim weiß es bestimmt!“ Yassien war begeistert.
„Also dann marsch ins Bett!“
Yassien beeilte sich, und kaum lag er mit geschlossenen Augen in den Kissen, da fragte er auch schon: „Lieber Salim, hat der Mond eine Nase und einen Mund und Augen?“
Er hörte das vertraute zarte Klirren und lauschte dann Salims leiser, klarer Stimme: „Guten Abend, Yassien. Die Frage scheint dir ja sehr wichtig zu sein, wenn du sogar die Begrüßung vergisst!“
„Ja, in meinem Traum hatte der Mond nämlich ein Gesicht, aber eben auf der Dachterrasse habe ich keins gesehen!“
„Weißt du, Yassien, der Mond hat nur im Traum ein Gesicht. Die Menschen wünschen sich manchmal, er hätte auch eins, wenn sie ihn am Himmel sehen. Der Mond hat sich das auch einmal gewünscht, aber das ist ein Wunsch, der sich nicht erfüllen lässt.“
„Hm“, machte Yassien und gähnte. „Warum lassen sich nicht alle Wünsche erfüllen, Salim?“
„Weil Wünsche zum Wünschen und Träumen da sind. Manchmal bekommt man die Erfüllung eines Wunsches geschenkt – und manchmal eben nicht.“
„Aha.“ Yassien konnte nur noch murmeln. „Hat der Mond dir erzählt, wie er sich ein Gesicht gewünscht hat, Salim?“
„Natürlich“, sagte Salim. „Aber davon erzähle ich dir morgen Abend. Jetzt bist du zu müde, wie mir scheint. Schlaf gut, mein Kind.“
Yassien hatte gerade noch: „Gute Nacht, Salim, du auch.“ sagen können. Als das zarte Klirren ertönte, war er schon eingeschlafen.

© Hossam El Kady

 

7. Der Mondwunsch

An diesem Abend hätte Yassien eigentlich ein bisschen länger aufbleiben dürfen. Morgen war Freitag, also ein freier Tag, und normalerweise wollte Yassien mindestens genau so lange wach bleiben dürfen wie Ali.
Aber heute wollte er das nicht. Er wollte die Geschichte vom Mond und dem Mondgesicht hören. Also machte er sich nach dem Abendessen fertig zum Schlafengehen und sagte Mama und Papa Gute Nacht.
„Was ist denn los, Yassien?“, fragte Papa erstaunt. „Du gehst freiwillig früh ins Bett?“
„Ja, Papa, Salim will mir heute die Geschichte vom Mondgesicht erzählen. Deshalb!“
Er hüpfte voller Erwartung in sein Bett, zog die Decke bis ans Kinn und schloss die Augen.
Nichts geschah.
„Salim?“, flüsterte Yassien. „Bist du da, Salim?“
Das zarte Klirren ertönte und Salims leise Stimme antwortete: „Natürlich bin ich da, Yassien. Ich bin da, solange du mich brauchst. Aber du musst mich ansprechen, sonst kann ich nicht sprechen. Einen guten Abend wünsche ich dir!“
„Ach so, äh, danke, Salim, ich dir auch“, sagte Yassien. „Weißt du noch, heute ist die Geschichte vom Mondgesicht dran!“
„Ich erinnere mich. Hast du dich eingekuschelt? Gut, dann beginne ich.
Es war einmal vor langer Zeit, da gab es den Mond gerade erst zehn Tage. Er lernte noch, wie er am Himmel seine Bahn entlang gehen und dass er am Morgen den Strahlen der Sonne Platz machen musste. Abends dagegen leuchtete er vom dunklen Nachthimmel herab und die Sterne waren seine Begleiter. An diesem Tag, an dem er blass und kaum sichtbar am hellblauen Himmel stand, sah er sich genauer an, was sich unten auf der Erde bewegte. Er erkannte die Bäume und die Pflanzen, er sah die großen und kleinen Tiere und auch die Menschen. Vor allem die Tiere hatten es ihm angetan. Einige konnten hüpfen, andere schritten majestätisch einher, wieder andere krochen,
schwammen oder flogen sogar. Das konnte der Mond nicht. Er hatte eine Bahn, die am Himmel verlief und der er exakt folgen musste, ob er wollte oder nicht.
Das betrübte ihn ein bisschen. Doch dann sagte er sich, dass er dafür das gesamte Geschehen auf der Erde von oben sehen könnte, und das konnten weder die Pflanzen noch die Tiere und auch die Menschen nicht.
Da fiel ihm etwas Besonderes auf. Die Tiere hatten alle ein Gesicht. Die Wassertiere und die Vögel mussten sich zwar meist auf Augen und Mund beschränken, dafür hatten die meisten Landtiere Ohren und eine Nase dazu. Und die Menschen besaßen ebenfalls ein Gesicht. Auch wenn ihre Gesichter von Land zu Land verschieden waren, so waren immer Mund, Nase, Ohren und Augen vorhanden.
Der Mond hatte natürlich keinen Spiegel, in dem er sich anschauen konnte, aber er konnte etwas anderes benutzen, um sein Spiegelbild zu sehen. Wenn er sich sehr anstrengte, dann erkannte er sich im Wasser. Bei Windstille lag beispielsweise der Viktoriasee in Tansania ganz glatt unter ihm und zeigte ihm, wie er selbst aussah.
Und da stellte er fest, dass er kein Gesicht besaß!
Sein Ebenbild wirkte bei Tag wie eine zartweiße und bei Nacht wie eine leuchtend gelbe Scheibe.
Der Mond schaute und schaute, aber es war wirklich nur die Scheibe zu sehen, kein Nasenbuckel, keine Ohrmuschel, keine Mundöffnung, nichts. Nur ein paar dunklere Flecken konnte er ausmachen. Doch einem Gesicht sahen sie nicht ähnlich.
Da wurde der Mond sehr traurig. Wenn er Augen gehabt hätte, dann hätte er geweint, dass der See unter ihm übergelaufen wäre – so traurig war er!
Nichts konnte ihn trösten, nicht das Leben auf der Erde bei Tag und nicht die Lichter der Sterne bei Nacht. Er bewegte sich auf seiner Himmelsbahn nur, weil er musste. Am liebsten wäre er heruntergeklettert und hätte sich in einer Erdhöhle verkrochen. Aber das ging ja nicht. Er musste seine Aufgabe erfüllen, dafür war er da.
Am nächsten Morgen bemerkte die Sonne, wie traurig der Mond war. Sie konnte seine Traurigkeit kaum aushalten und sprach ihn an. Er klagte ihr sein Leid.
‚Du bist traurig, weil du kein Gesicht hast?’, fragte sie. ‚Aber das macht doch nichts! Schau mich an, ich habe auch keins. Trotzdem können wir alles sehen, wir können hören und sprechen! Da macht es doch nichts, dass wir keine Ohren und Augen und keinen Mund haben!’
‚Aber weil die Tiere und Menschen Gesichter haben, kann man sie voneinander unterscheiden’, sagte der Mond.
Da sagte die Sonne: ‚Ja, von den Tieren und Menschen gibt es ja auch sehr viele. Aber dich und mich gibt es nur ein Mal auf dieser Welt. Wir sind einzigartig, auch von der Zahl her. Uns braucht man nicht zu unterscheiden!’
Die Sonne hat recht, dachte der Mond. Wir brauchen keine Gesichter! Da muss ich nicht länger traurig sein. Oh, wie bin ich jetzt froh!
‚Ich danke dir, Sonne, dass du mir geholfen hast! Natürlich brauchen wir keine Gesichter! Ich danke dir. Auf Wiedersehen!’
Von da an lachte der Mond nur, wenn die Menschen behaupteten, sie könnten seine Nase oder seine Augen sehen. Auch über die Bilder, die sie von ihm malten, musste er lachen. Er verstand, dass sie ihm ein Gesicht gaben, damit sie ihn sich besser vorstellen konnten, aber nicht, weil er so aussah.
Und es störte ihn kein bisschen.
Nun weißt du, dass der Mond kein Gesicht hat, Yassien.“
„Ja, und es ist gar nicht schlimm für ihn“, antwortete Yassien. „Aber ich bin froh, dass ich ein Gesicht habe, denn sonst könnten mich Mama und Papa und Ali und du gar nicht erkennen.“
„Du bist ja auch nicht der Mond, du bist Yassien! Und nun schlaf gut, mein Kind.“
„Gute Nacht, Salim.“
Yassien hörte noch das zarte Klirren, dann begann er zu träumen.

© Hossam El Kady

 

8. Nadim

„Guten Abend, Salim“, sagte Yassien, nachdem er sich in sein Bett gekuschelt hatte. Jetzt im Winter hatte er sich in zwei Decken gewickelt, sonst war es ihm zu kalt. Er schloss die Augen und strampelte ein bisschen mit den Beinen, weil das Bett schneller warm werden sollte.
Das vertraute Klirren ertönte und Salims leise Stimme sprach: „Auch dir einen guten Abend, Yassien. Wie geht es dir? Bist du müde?“
„Ein bisschen müde, aber nur ein bisschen. Salim, warst du schon mal am Nil?“
„Ja, ich habe ihn einmal gesehen. Er fließt durch Ägypten hindurch und auch mitten durch Kairo. Ohne den Nil hätten wir kein Wasser.“
„Ja“, antwortete Yassien. „Ich war heute dort mit Papa, Mama und Ali. Der Nil ist einfach riesig! Wir haben auf einer Brücke gestanden. Ich habe ein paar Boote gesehen und es war so viel Wasser drin!“ Yassiens Stimme klang bewundernd. Er zeigte mit den Armen, wie viel Wasser es gewesen war, und beinahe hätte er die Augen geöffnet. Er kniff sie ganz schnell wieder fest zusammen und fragte: „Wieso hätten wir ohne den Nil kein Wasser?“
„Der Nil ist der einzige Fluss in Ägypten, Yassien. Andere Länder haben mehrere Flüsse, aber durch Ägypten fließt nur der Nil. Er kommt aus dem Land Sudan im Süden und fließt an großen und kleinen ägyptischen Städten vorbei, bis er das große Meer im Norden erreicht. Es heißt Mittelmeer. Die Menschen haben am Nil entlang ihre Häuser gebaut, weil sie mit seinem Wasser ihren Durst löschen können. Und sie benötigen das Wasser für ihre Felder. Da es in Ägypten ganz selten regnet, sind alle auf das Nilwasser angewiesen.“
„Was ist denn regnen, Salim?“
„Regnen bedeutet, dass Wasser in Tropfen aus dem Himmel fällt.“
„Ach, die Tropfen habe ich schon einmal abbekommen! Sie waren ganz nass.“
„Regen ist eben auch Wasser, wie das, das aus dem Wasserhahn fließt, wenn du ihn aufdrehst, oder das, das der Nil ins Mittelmeer bringt. Und auf seinem Weg dorthin hilft er den Menschen.“
„Du meinst, ohne das Nilwasser wächst nichts?“
„Ja, Yassien, das meine ich. Wenn du kein Wasser zum Trinken hast, dann kannst du nicht leben. Den Pflanzen ergeht es ebenso. Sie vertrocknen. Der Mond hat schon oft gesehen, dass Pflanzen vertrocknet sind. Magst du eine Geschichte dazu hören?“
„Ja“, sagte Yassien.
Salim erzählte:
„An einem frühen Freitagmorgen, als der Mond schon fast ganz blass war, sah er im Nildelta einen Mann auf seinem Feld stehen. Das Nildelta ist das riesengroße Dreieck, das der Nil bildet, wenn er an der Stadt Kairo vorbeigeströmt ist und zum Mittelmeer weiterfließt. Er teilt sich dort in zwei große Flussarme, und die Menschen bauen Kanäle und Gräben, durch die sie sein Wasser auf ihre Felder transportieren. Deshalb können sie im Nildelta sehr viel Gemüse und viele Früchte anpflanzen.
Der Mann nun, er hieß Nadim, stand am frühen Morgen auf seinem Acker. Er hatte ihn mit Weizen bepflanzt. Aus dem reifen Weizen wird aisch, Brot, gebacken, das weißt du sicher. Nadim wollte einen kleinen Teil der Weizenernte für seine Familie behalten und den anderen Teil wollte er nach Kairo verkaufen, an seinen Freund, einen Bäcker. Doch Nadims Weizenpflanzen wurden nicht reif. Sie waren verdorrt, weil sie nicht genug Wasser bekamen. Nadim hatte zwar Gräben gebaut, um das Wasser von einem der Kanäle aus der Umgebung zu seinem Feld zu leiten, aber es war nicht angekommen. Nadim war Möbelschreiner und hatte in den letzten Wochen so viel andere Arbeit gehabt, dass er sich nicht darum kümmern konnte, die Verschlüsse an den Gräben zu öffnen. Und seine Kinder waren noch zu klein, um ihm zu helfen.
Nadim besah sich sein Feld und weinte, denn es war teuer gewesen, das Feld und die Weizenkörner zu kaufen. Fast seine ganzen Ersparnisse hatte er dafür hergeben müssen. Und er hatte hart gearbeitet. Abends nach seiner Arbeit, dem Bauen von Tischen und Stühlen und Schränken, war er mit seinem Fahrrad bis zu seinem Feld gefahren und hatte es für die Körner vorbereitet. Ein Nachbar hatte ihm eine Hacke und eine Schaufel geliehen. Damit grub er die Erde um und hob die Gräben für die Bewässerung aus. Danach hatte er den Weizen gekauft und in die Erde gelegt. Der Nachbar hatte ihm gesagt, wann der richtige Zeitpunkt war und wie tief er in die Erde hinein musste.
Doch dann hatte Nadim jeden Tag länger in der Werkstatt arbeiten müssen. Sein Meister hatte viele Aufträge bekommen und Nadim konnte nicht nach Hause gehen oder auf sein Feld fahren, bevor der Stuhl oder der Tisch, die er gerade baute, fertig waren.
Daher hatte er sich nicht genügend um seine Weizenpflanzen kümmern können. Als sie nicht mehr regelmäßig mit Wasser versorgt wurden, vertrockneten sie.
Der Mond war ganz traurig, als er Nadim da stehen sah. Er hätte ihn so gern getröstet, aber wie?
Da trat der Nachbar an Nadim heran. ‚Nun, Nadim, das ist wohl schiefgegangen, wie? Ich glaube, du musst die Gräben tiefer ausheben, und du müsstest öfter kommen, um sie zu öffnen.’
‚Ja, du hast recht, Nachbar’, antwortete Nadim und schluckte. Vor dem Mann wollte er nicht weinen, auch wenn ihm die Tränen in den Augen standen. ‚Aber was soll ich machen, wenn der Meister mir immer mehr Arbeit gibt? Schlecht ist es ja nicht. So verdiene ich das Geld, das meine Familie und ich zum Leben brauchen. Aber ich möchte so gern ein eigenes Feld haben. Schon als Kind habe ich davon geträumt! Und jetzt ist alles verdorrt und verloren!’
‚Nun, nun, Nadim, lass den Kopf nicht hängen. Ich habe eine Idee! Ich brauche noch ein Stück Land. Wie wäre es, wenn du mir deinen Acker verpachtest? Ich würde dir eine kleine Summe zahlen, und immer, wenn du keine Zeit hast, würden meine Arbeiter und ich mich um alles kümmern. Und wenn du da bist, arbeitest du mit und lernst auf diese Weise noch etwas über Ackerbau dazu. Und den Gewinn teilen wir uns. Und wenn du irgendwann einmal alles allein schaffst, dann lösen wir den Pachtvertrag. Was meinst du?’
Nadim stand der Mund vor Staunen offen. Unsicher schaute er den Nachbarn an. Meinte er es ernst? ‚Du willst mir helfen? Ich kann es kaum glauben! Das müssen wir genauer besprechen.’
Der Nachbar lachte. ‚Da staunst du, wie?’, sagte er. ‚Komm mit, ich lade dich zu einem Glas Tee ein. Dann besprechen wir alles, damit wir beide zufrieden sind.’
Die beiden Männer gingen über Nadims Feld und kletterten über den Zaun auf das Grundstück des Nachbarn.
Nadim blickte sich noch einmal um und sah in Gedanken ein Feld mit reifem Weizen oder blühenden Kartoffeln vor sich, auf dem er, seine Frau und seine Kinder arbeiteten. So stellte er sich die Zukunft vor. Dankbar ging er hinter seinem Nachbarn her.
Der Mond hatte alles gehört und war erleichtert. Nun konnte Nadim sich seinen Traum doch noch erfüllen.“
„Da hat Nadim aber Glück gehabt“, murmelte Yassien. „Danke für die Geschichte, Salim. Ich glaube, jetzt bin ich richtig müde. Schlaf gut.“
„Gute Nacht, mein Kind“, antwortete Salim, und wenn Yassien nicht schon eingeschlafen wäre, hätte er wieder das zarte Klirren vernommen.

© Hossam El Kady

 

9. Der Müll

Yassien geht mit Mama einkaufen. Im Supermarkt sieht er die Kühltruhe mit dem Eis und fragt: „Mama, darf ich ein Eis haben?“
Mama antwortet: „Ja, such dir eins aus, Yassien.“
Yassien nimmt das weiße Eis mit der Schokolade innen. Er reißt das Papier ab und wirft es achtlos auf den Fußboden.
„Yassien, heb bitte das Papier auf und wirf es in den Mülleimer draußen.“ Mamas Stimme klingt scharf.
Yassien guckt sie an. „Warum bist du denn böse, Mama?“
„Das Eispapier gehört nicht auf den Boden, sondern in den Abfalleimer“, sagt sie streng.
„Aber Mama, jeder wirft doch das Papier auf die Erde!“ Yassien weist auf Papierreste, leere Dosen und Plastiktüten am Straßenrand.
„Genau“, sagt Mama. „Und deshalb ist die ganze Stadt so schmutzig! Überall liegt der Dreck! Die Leute müssen aufpassen, dass sie nicht hineintreten. Nein, wir machen da nicht mit. Heb das Papier auf und steck es in den Abfalleimer, Yassien!“
Yassien versteht nicht, warum Mama so böse ist. Er nimmt das Eispapier und lässt es in den halb leeren Müllbehälter fallen. „Guck mal, Mama, da ist fast nichts drin!“ sagt er.
Mama schaut immer noch böse. „Ja, weil die Leute ihn nicht benutzen. Komm jetzt, Yassien, wir wollen bald zu Abend essen. Wir müssen nach Hause.“
Später, am Tisch, erzählt Yassien Papa von dem Erlebnis mit dem Eispapier.
„Mama hat recht“, sagt Papa. „Anstatt ihren Müll in den Abfalleimer oder den Müllcontainer zu werfen, lassen viele Leute ihn einfach auf die Straße fallen. Sie denken, dass ihn schon jemand wegräumen wird.“
„Dafür schind doch die Schabaleen zuschtändisch“, ruft Ali mit vollem Mund.
„Ali, bitte mach den Mund leer, bevor du redest!“ Mama guckt schon wieder böse, aber diesmal wegen Ali.
„Was sind denn Schabaleen?“ will Yassien wissen.
„Es heißt zabaleen“, sagt Papa.
„Die zabaleen sind die Müllleute. Das weiß doch jeder!“ Ali schüttelt den Kopf, weil Yassien so eine dumme Frage gestellt hat. Doch Yassien lässt sich nicht ärgern.
„Was machen die Müllleute?“ fragt er weiter.
„Sie holen den Müll von den Wohnungen in der ganzen Stadt ab und bringen ihn in ihre Stadtviertel“, erklärt Papa. „Sie sollen auch den Müll von den Straßen wegräumen, aber es ist zu viel. Sie schaffen es oft nicht.“
„Und was machen die Müllleute mit dem Müll? Essen sie ihn?“
Ali verschluckt sich fast an seinem Bissen Brot und musste husten. Mama lächelt und Papa lacht laut heraus.
„Nein, Yassien. Sie essen ihn nicht. Sie sind Menschen wie wir und würden nur Bauchschmerzen bekommen. Sie sortieren den Müll. Wenn sie Essensreste finden, füttern sie damit die Tiere. Manchmal werfen die Leute etwas weg, das man noch benutzen kann, zum Beispiel einen Eimer. Den verkaufen die zabaleen. Und wenn sie Scherben finden, versuchen sie, sie zusammenzukleben und benutzen dann beispielsweise die Tasse oder den Teller.“
Yassien ist erstaunt. „Sie verkaufen also etwas und behalten etwas.“
„Richtig“, sagte Papa. „Um ihnen ihre Arbeit zu erleichtern, packen wir unsere Abfälle in Plastiktüten und legen sie in den Müllbehälter vor unserer Wohnungstür. Jeden Morgen, wenn du noch schläfst, holen die zabaleen unsere Mülltüten ab. Dafür bezahlen wir ihnen auch Geld.“
„Warum geben wir ihnen Geld dafür?“
„Das Müllsammeln und -sortieren ist die Arbeit der zabaleen. Meine Arbeit ist es, den Menschen, die unser Land besuchen, zu erklären, wie unser Volk früher gelebt hat. Dafür werde ich bezahlt. Von dem Geld, das ich verdiene, kaufen wir unser Essen und unsere Kleidung. Bei den zabaleen ist es genauso.“
„Warum müssen wir ihnen helfen? Warum werfen wir nicht einfach alles, was wir nicht mehr brauchen, aus dem Fenster?“
Ali springt auf. „Weil sonst die Straßen noch dreckiger werden! Das haben Mama und Papa doch eben gesagt!“
„Hm“, macht Yassien. „Außerdem stinkt es dann draußen noch mehr, oder?“
„Allerdings!“ Mama räumt den Tisch ab. „Den Rest von deinem Brot werfe ich aber nicht in den Mülleimer. Den kannst du morgen noch essen. Ich lege ihn in den Kühlschrank.“
„Yassien, es ist Zeit ins Bett zu gehen.“ Papa steht ebenfalls vom Tisch auf. „Komm. Die Schule fängt früh an morgen.“
Yassien will sich erst beschweren, doch dann geht er ins Bad, wäscht sich, zieht den Pyjama an und putzt sich die Zähne. Papa wartet schon an seinem Bett. Er deckt Yassien zu und sagt: „Morgen können wir weiter über die zabaleen sprechen, wenn du willst. Vielleicht kennt Salim eine Geschichte, die er dir erzählen kann. Schlaf gut.“ Yassien gibt Papa einen Kuss und schließt die Augen.
Papa zieht die Tür hinter sich zu und Yassien sagt: „Guten Abend, Salim. Mama und Papa haben mir heute von den Müllleuten erzählt. Kennst du eine Geschichte über sie?“
Das zarte Klirren ertönt und eine leise Stimme sagt: „Guten Abend, Yassien. Ja, es gibt eine Geschichte über einen zabal, einen Mann, der Abdel Rahim heißt. Vor vielen Jahren, da war er jung, hatte Abdel Rahim eine Frau und zwei kleine Kinder. Aber er hatte keine Arbeit und wusste nicht, wovon er für seine Familie Brot und Milch und Öl und Gemüse kaufen sollte.Überall hatte Abdel Rahim nach Arbeit gefragt, aber er fand keine. Manchmal saß er abends im Mondlicht vor seiner kleinen Hütte und weinte aus Verzweiflung. Der Mond sah es. Eines Tages sagte ihm ein Fuhrmann, der leider auch keine Arbeit für ihn hatte, er sollte zu den zabaleen gehen. Vielleicht könnte er bei ihnen arbeiten. Abdel Rahim wollte erst nicht, denn es gefiel ihm gar nicht, den Müll von anderen Leuten abzuholen und zu sortieren. Aber er brauchte Geld für seine Frau und die Kinder und überlegte es sich.
Tatsächlich bekam er Arbeit bei Yussuf. Jeden Tag fuhr er mehrmals mit dem Eselskarren durch Medinet Nasr und nahm den Müll aus den großen Eimern vor den Wohnungen oder auch von der Straße weg und brachte alles zu Yussufs Haus. Dort wurde der Müll danach sortiert, was verkauft werden konnte, was die Familie noch benutzen wollte, was die Tiere zu fressen bekamen und was verbrannt werden sollte. Antun und Mina, Yussufs jüngere Söhne, halfen Abdel Rahim. Am Anfang zeigten sie ihm den Weg und wie man den Müll auf dem Karren schichtet. Doch schnell hatte Abdel Rahim alles verstanden und gab ihnen seine Anweisungen. Er mochte die Jungen und tat bald auch seine Arbeit gern. Es freute ihn, dass er half, die Stadt sauber zu halten. Denn damals, als Abdel Rahim ein zabal wurde, lebten viel weniger Menschen in Kairo und es gab auch viel weniger Abfall. Yussuf unterhielt sich gern mit Abdel Rahim. Er erklärte ihm sogar, wie er sein Geschäft führte und wer alles für ihn arbeitete.
Eines Tages starb Yussuf. Nach ein paar Wochen fragte Madame Lea, Yussufs Frau, Abdel Rahim, ob er das Geschäft übernehmen wolle, weil der älteste Sohn nicht als zabal arbeiten wollte und die jüngeren Söhne noch zu jung waren. Abdel Rahim dachte darüber nach und stimmte dann zu.
Anfangs war es schwer für ihn, alle Aufgaben zu erfüllen und mit den Arbeitern zurechtzukommen, doch mit der Zeit gelang es ihm, und er verdiente gut. Seine vier Söhne arbeiteten mit ihm zusammen und heute, nach vielen, vielen Jahren, führen sie das Geschäft. Sie fahren nicht mehr mit Eselskarren durch die Stadt, sondern haben kleine Lastwagen gekauft, um den Müll zu transportieren. Abdel Rahim ist jetzt sehr alt. Er erzählt seinen Enkeln oft von der Zeit, als er mit Antun und Mina in den Straßen gearbeitet hat. An manchen Abenden sitzt er vor seinem Haus, raucht eine Shisha und beklagt sich dem Mond. Denn er will immer noch, dass Kairo sauber ist, dass der Müll nicht auf die Straßen, sondern in die schönen neuen Abfalleimer geworfen wird. Dafür hat der Gouverneur sie aufstellen lassen. Der alte Abdel Rahim redet mit seinen Freunden oft darüber, und sie verstehen ihn, denn sie finden auch, dass Kairo viel zu schmutzig ist. Sie finden es traurig, dass die meisten Menschen denken, es ist in Ordnung, wenn man seinen Abfall einfach überall fallen lässt. Sie meinen, die Straßenfeger heben ihn schon auf. Doch die Straßenfeger sind nicht für den Abfall zuständig, sondern für den Staub, den der Wind mitbringt.“
Yassien nickt mit geschlossenen Augen: „Es sieht bestimmt schön aus, wenn in Kairo kein Müll auf der Straße liegt. Ich werfe alles in die Mülleimer und ich erzähle meinen Freunden in der Schule die Geschichte von Abdel Rahim. Danke, Salim!“
Salim erwidert: „Gute Nacht, mein Kind. Schlaf gut.“ Das zarte Klirren ertönt wieder. Ali, der in diesem Moment die Zimmertür öffnet, hört es nicht und Yassien ist schon eingeschlafen.

 

10. Schulvorbereitungen

„Bleib endlich ruhig stehen, Yassien!“ Mama wurde ungeduldig. „Du musst die Schuluniform jetzt anprobieren, damit wir wissen, dass sie dir passt!“
„Ich will aber nicht! Ich will nicht in die Schule!“ Yassien hielt nicht still. Er wippte mit den Füßen oder zuckte mit den Armen.
„Jedes Kind muss in die Schule“, sagte Mama. „Jedes Kind soll Lesen und Schreiben lernen, damit es den Koran lesen kann. Yassien! Jetzt reicht es! Steh still oder ich sage Salim, dass er dir heute Abend keine Geschichte erzählen darf!“
Das war die schlimmste Strafe, die Yassien sich denken konnte! Das wusste Mama. Sie musste wirklich sehr ärgerlich sein. Yassien gab sich Mühe, ruhig auf seinem Platz zu stehen. Die Hose gefiel ihm eigentlich. Sie war nur dunkelblau. Aber die Jacke wollte er nicht anziehen. Sie war auch dunkelblau und hatte einen gelben Kragen. Darunter musste er ein weißes T-Shirt und ein blaues Halstuch tragen. Das sah blöd aus, fand Yassien.
„Mama, ist in vier Tagen lange?“, fragte er. Sie hatte gesagt, dass sein erster Schultag in vier Tagen sein würde.
„Nein, nur vier Mal schlafen“, antwortete Mama. „Warum fragst du?“ Sie war zufrieden und lächelte. „Du siehst gut aus, wie ein großes Kind! Oh, Yassien, nun bist du schon groß und ein Schulkind!“
„Muss ich wirklich in die Schule, Mama?“ fragte Yassien leise.
„Weißt du, Yassien, du kannst nicht immer klein bleiben. Du wächst und wirst größer und kommst vom Kindergarten in die Schule. Das ist so.“
„Aber ich habe Angst, Mama“, flüsterte Yassien, weil er sich ein bisschen schämte, das zuzugeben.
„Ich weiß“, flüsterte Mama zurück. „Ich hatte auch Angst, und ich habe mich nicht getraut, es jemandem zu verraten. Doch nach dem ersten Schultag gefiel es mir ganz gut. Die Lehrerin war nett und die anderen Kinder auch. Du wirst sehen, das wird bei dir ganz genauso sein!“
Sie nahm Yassien in die Arme und drückte ihn an sich. „Außerdem kommen Papa und ich doch am ersten Schultag mit dir.“
Ein bisschen fühlte Yassien sich getröstet.
Am Abend, als er im Bett lag und die Augen geschlossen hatte, sagte er: „Guten Abend, lieber Salim. Bald muss ich in die Schule. Ich will aber nicht. Ich will lieber im Kindergarten bleiben. Warst du auch in der Schule, Salim?“
Das zarte Klirren ertönte und Salims leise Stimme antwortete: „Guten Abend, Yassien. Ja, ich war auch in der Schule. Ich mochte den Lehrer, und ich mochte es, Lesen zu lernen. Es ist gut, dass Du in die Schule gehen kannst! Dort kannst Du so viel lernen. Im Kindergarten geht das nicht.“
„Aber Ali sagt immer, dass die Hausaufgaben so schwer sind.“ Yassien war nicht überzeugt, dass die Schule eine gute Sache für ihn sein könnte.
„Ja“, antwortete Salim. „Manchen Kindern fällt das Lernen leicht und anderen schwer. Aber wenn sie sich Mühe geben, dann verstehen sie alles und die Hausaufgaben werden leichter. Du wirst es gewiss leicht finden. Und weißt du, Yassien, du darfst in die Schule gehen. Der Mond hat mir die Geschichte von Rasha erzählt, die das nicht durfte. Möchtest du von Rasha hören?“
„Du meinst, ihre Eltern haben ihr verboten, in die Schule zu gehen?“, fragte Yassien erstaunt. Er hatte gedacht, dass alle Kinder überall in die Schule gehen müssten.
„Ja“, sagte Salim. „Rasha wohnt in einem Dorf in der Nähe von Aswan, ganz im Süden von Ägypten. In ihrem Dorf gibt es keinen Kindergarten und keine Schule. Die Kinder, die in die Schule gehen sollen, müssen eine lange Strecke laufen oder mit dem Bus fahren. Die Leute im Dorf sind arm. Sie leben davon, ihre kleinen Felder zu bestellen. Das, was sie ernten, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, reicht gerade aus, um Essen für die Familie zu bezahlen, aber nicht für Bücher und eine Schuluniform oder gar für den Bus. Außerdem müssen die Kinder der Bauern auf dem Feld mitarbeiten, sobald sie laufen können.
Rasha hat immer mitgeholfen. Erst hat sie die Pflanzenstängel aufgehoben, dann die Zwiebeln und Kartoffeln aus der Erde geholt. Ihr Vater wollte sie bald verheiraten und fand, dass es nicht nötig war, sie vorher in die Schule zu schicken.
Doch Rasha wollte gern lernen. Ihre Freundin Nermien lief jeden Tag zu Fuß zu der Schule am Stadtrand von Aswan und lernte nicht nur Lesen und Schreiben auf Arabisch und Englisch. Ihr Lehrer berichtete den Kindern auch von anderen Ländern und er sang mit ihnen Lieder, die sie vorher noch nicht gehört hatten. Nermien erzählte Rasha davon, und Rasha bekam große Sehnsucht, auch zur Schule zu gehen. Doch ihr Vater erlaubte es nicht, so sehr sie auch bat und bettelte.
Eines Tages hatte sie eine Idee.
Im Dorf lebte ein Mann, den alle affandim, Herr, nannten. Warum, das wusste niemand mehr, denn der affandim wohnte schon sehr lange dort. Manchmal ging er auf Reisen. Er war ein weiser Mann und wurde vom sheikh hin und wieder um Rat gebeten, wenn sich die Männer des Dorfes nicht einigen konnten. An einem Abend schlich sich Rasha aus dem Haus, als alle schliefen. Der Mond bemerkte sie, als sie wie ein Schatten durch das Dorf huschte, und sandte ihr so viel Mondlicht, wie er konnte, denn er wusste, dass sie sich im Dunkeln fürchtete. Der affandim saß unter einer Laterne vor seinem Haus und rauchte eine shisha, eine Wasserpfeife. Rasha wartete kurz, holte tief Luft und trat dann in den Schein seiner Lampe.
‚Guten Abend, mein Kind“, sagte der affandim überrascht. ‚Was treibt dich so spät hierher? Weiß dein Vater, dass du hier bist?’
‚Nein, yaffandim’, antwortete Rasha schüchtern, aber entschlossen. ‚Ich will so gern lernen, aber mein Vater erlaubt es mir nicht! Deshalb habe ich mich zu dir geschlichen. Vielleicht weißt du einen Rat, denn die Leute sagen, dass du ein weiser Mann bist.’
‚Soso, du willst lernen. Was willst du denn lernen?’, fragte der affandim.
‚Ich will in die Schule gehen und lernen, wie man die arabische Sprache schreibt und liest, yaffandim, und wie es in anderen Ländern ist, und die Sprache der inglisi, der Engländer, will ich auch lernen! Bitte, kannst du mir helfen?’
Der affandim kratzte sich am Kopf. ‚Das ist aber sehr schwer, wenn dein Vater nicht einverstanden ist!’
‚Das weiß ich, aber vielleicht könntest du mit ihm sprechen? Wenn du mit ihm redest, dann lässt er mich vielleicht lernen. Du bist meine letzte Hoffnung, yaffandim! Ich werde alle Arbeit nach der Schule machen, das verspreche ich!’
Der affandim sah das Mädchen, das da vor ihm stand, an. Der Mond schickte erneut sein silbernes Licht hinab, weil er wollte, dass es dem affandim dabei half, sich zu entscheiden.
Schließlich nickte er. ‚Ich werde morgen zu deinem Vater gehen. Vielleicht finden wir eine Lösung. Aber erhoffe dir nicht zu viel! Nun geh nach Hause. Es ist schon spät.’
‚Ich danke dir, yaffandim! Ich danke dir sehr!’ Rasha war überglücklich. Dann zögerte sie.‚Ich habe solche Angst im Dunkeln. Kannst du mich nach Hause bringen?’
‚Du hast Angst vor der Dunkelheit und bist trotzdem zu mir gekommen? Es muss dir sehr ernst mit deinem Wunsch sein!’ Der affandim schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben.
Er ging mit ihr, und Rasha hielt seine Hand ganz fest, bis sie vor ihrem Haus standen.
‚Gute Nacht’, flüsterte der affandim, und Rasha ging auf Zehenspitzen hinein.“
Salim schwieg.
„Wie ging es weiter? Durfte Rasha zur Schule gehen?“ Yassien war gespannt.
„Nein“, entgegnete Salim. „Aber sie durfte jeden Tag nach der Arbeit im Feld oder im Haus zum affandim gehen und bei ihm lernen. Der affandim war schon durch viele Länder gereist und konnte nicht nur Arabisch und Englisch sprechen und lesen, sondern auch Französisch und Deutsch. Er besaß Bücher in all diesen Sprachen, die Rasha mit ihm lesen durfte.“
„Und hat ihr Vater sie verheiratet?“, wollte Yassien wissen, obwohl er schon sehr schläfrig war.
„Nein, der affandim hatte ihn darum gebeten, dass sie als seine Assistentin mit ihm verreisen durfte. Er gab dem Vater Geld für die Zeit, in der Rasha nicht zu Hause arbeiten konnte, und der Vater war einverstanden. So hat Rasha die Länder kennengelernt, deren Sprachen sie der affandim gelehrt hatte.“
„Der Mond wollte, dass Rasha zur Schule geht“, murmelte Yassien noch, bevor er einschlief.
„Gute Nacht, mein Kind.“ Das zarte Klirren ertönte gerade, als die Tür aufging und Mama leise an Yassiens Bett trat.
Mama hörte es nicht. Sie deckte Yassiens linkes Bein zu, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Mein Schulkind Yassien!“
Dann ging sie lächelnd hinaus.

© Hossam El Kady

Alle Rechte vorbehalten – Astrid Kühnemann

 

Zu Salim erzählt vom Mond II - Die Revolution

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