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Leben in Luxor Autorenforum: Ägypten verstehen - ein etwas anderer Sprachkurs, Teil 8: Sein und Schein - الكون والمظهر al-kūn wa al-mazhar
von Hans Mauritz (September 2014)
Illustriert von Claudia Ali
To be or not to be ... - Zitat aus "Hamlet" von William Shakespeare
Das Verb كان „kân“ („kään“ gesprochen) heißt „sein, existieren, sich befinden, geschehen“ und hat oft eine philosophische, metaphysische Dimension. Darin unterscheidet sich Arabisch kaum von europäischen Sprachen: Denken wir nur an Hamlets bange Frage „to be or not to be“, an Sartres Abhandlung „l‘être et le néant“ ([Anzeige] „Das Sein und das Nichts“) oder an den Titel von Milan Kunderas Roman [Anzeige] „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Im Ägyptischen zeugt davon z.B. die Redensart اللي كان كان „illi kân kân“, „was geschehen ist, ist geschehen“. Das Verb كان ist trotzdem schon kleinen Kindern vertraut, die sich mit solch existentiellen Fragen noch kaum beschäftigen, denn Märchen beginnen im Arabischen so: كان يا ما كان في قديم الزمان „kân ya makân fi qadîm az-zamân“, „es war einmal in alter Zeit“.
Erstaunlich ist, dass das Pendant zu „sein“, das Verb „haben“, im Arabischen gar nicht vorhanden ist. Diese Sprache drückt „haben“ durch die Präpositionen „mit“ „bei“, und „für“ aus. „Hast du Kleingeld bei dir?“ heißt معك فكّة ؟ „ma’ak fakka? , „hast du Kinder?“ عندك أولاد „‘andak aulâd“, „das Haus hat nur eine Tür“ البيت له باب واحد „al-beit luh bâb wâhed“. Dass es eine Sprache gibt, die nur „sein“ und kein „haben“ kennt, grenzt an ein Wunder. Wer in Ägypten lebt, macht sich jedoch keine Illusionen: Die Habgier unserer materialistisch geprägten Zeit hat auch viele Ägypter nicht verschont.
Erstaunlich ist auch, dass das Verb كان die häufigste und banalste Funktion seiner europäischen Entsprechungen nur in eingeschränktem Maß ausüben muss. Die kopulative Funktion des deutschen Verbs „sein“ (Subjekt = Prädikat) übernimmt im Arabischen meistens der Nominalsatz, der ohne Verb auskommt: أحمد طالب في الجامعة „Ahmed tâleb fil gâm’a“, „Ahmed ist Student an der Uni“, أحمد مبسوط „Ahmed mabsût“, „Ahmed ist glücklich“. Freilich sind solche Nominalsätze nur im Präsenz möglich, nicht in der Vergangenheit, in der Zukunft und auch nicht in untergeordneten Sätzen: أحمد كان طالب“Ahmed kân tâleb“, „Ahmed war Student“; أحمد حيكون دكتور „Ahmed hajekûn duktûr“, „Ahmed wird Arzt“ ; أتمنّى تكون مبسوط „atmanna tekûn mabsût“, „ich hoffe, du bist glücklich“.
Das Verb كان ist andererseits wichtig, weil es dazu dient, eine ganze Reihe von grammatischen Zeiten und Modi zu bilden. Die wichtigsten sind das Plusquamperfekt (أحمد كان جه „Ahmed kân geh“, „Ahmed war gekommen“) und die Konditionalsätze in der Gegenwart und Vergangenheit: لو هو جه أنا كنت أشوفه „law howwa geh ana kunt ashûfuh“, „wenn er käme, würde ich ihn treffen“, und لو هو كان جه أنا كنت شفته „law howwa kân geh ana kunt shuftuh“, „wenn er gekommen wäre, hätte ich ihn getroffen“. Ein schönes Beispiel dafür, wann man كان braucht und wann nicht, ist das Sprichwort الكلب كلب ولو كان طوقه دهب „al-kalb kalb ... we-law kân tooquh dahab“, „ein Hund ist ein Hund, selbst wenn sein Halsband aus Gold ist“.
© Erik Lam
Vom Verb كان sind Substantive und Partizipien abgeleitet, die überwiegend in den philosophischen, „existentialistischen“ Wortschatz gehören. الكون „al-kaun“ (ägyptisch „al-koon“) meint „das Sein, Dasein, die Existenz, die Welt, das Weltall, das Universum“. Dieselbe Bedeutung hat الكيان „al-kiyân“, das man außerdem mit „das Wesen, die Substanz, die Natur einer Sache, die Art zu sein, die Identität, die Bedeutung und den Status, den man hat“ übersetzt. بيشعر بكيانه „beyish’ar bikiyânuh“ heißt „er ist sich seiner Bedeutung bewusst“, راجل له كيان في الممجتمع „râgil luh kiyân fil mogtama‘“ meint einen Mann, der einen hohen Status in der Gesellschaft einnimmt. كائن „kâ’in“ meint als Partizip „seiend, existierend, befindlich“, als Substantiv „Geschöpf, Wesen, engl. being“. Den Plural الكائنات „al-kâ’inât“ übersetzt man mit „die geschaffenen Dinge und Wesen, die Schöpfung“. Gott trägt das Epithet الكائن المطلق „al-kâ’in almutlaq“, das absolute Wesen.
Ein anderes Wort dieser Familie ist bereits dem Anfänger im Arabischen vertraut: المكان „al-makân“, das im konkreten, alltäglichen Leben „der Platz, an dem man sich befindet, der Ort, die Stelle“ bedeutet. المكان ده فاضي „al-makân da fâdhi?“ fragt man, wenn man sich vergewissern will, ob ein Platz im Zugabteil, im Kino oder Restaurant noch frei ist. الزمان والمكان „al-zamân w-al-makân“ heißt „Raum und Zeit“. المكان, ebenso wie seine weibliche Entsprechung المكانة „al-makâna“, kann aber auch übertragene Bedeutung haben und „Stellung, Rang, Würde, Bedeutung, Gewicht, Ansehen, Autorität, Einfluss, Prestige, Status“ heißen. مكان dient auch dazu, wichtige adverbielle Ausdrücke zu bilden wie في كل مكان „fi kulli makân“ „überall“, في مكان تاني „fi makân tâni“ „anderswo“ oder لو كنت في مكانك „law kunt fi makânak“, „wenn ich an deiner Stelle wäre.
Aus der Sphäre des Philosophischen und Metaphysischen kommen wir heraus, wenn wir uns mit dem Gegenteil von الكون befassen. Im Deutschen wie im Französischen reimen sich die Gegensatzpaare: Sein und Schein, être und paraître. Das ist im Arabischen nicht der Fall. Aber die arabische Wortfamilie ظ ه ر teilt mit dem Deutschen die Ambiguität, welche das deutsche „erscheinen-scheinen, anscheinend-scheinbar“ prägt: Viele Vokabeln können eine positive, neutrale oder negative Bedeutung haben. Das Grundverb ظهر „zahara“ hat keinen negativen Beigeschmack. Es heißt „sichtbar werden, erscheinen, in Erscheinung treten, sich zeigen, auftauchen, sich offenbaren“. Das Verbalsubstantiv الظهور entspricht diesen Bedeutungen, aber حبّ الظهور „hubb az-zuhûr“ meint die Lust, sich zur Schau zu stellen, zu prunken, anzugeben. Das Partizip ظاهر „zâher“ heißt „sichtbar, offensichtlich, deutlich“, aber auch „äußerlich, scheinbar, angeblich, vordergründig“. Als Substantiv meint الظاهر „den Anschein, das Aussehen, die Außenseite, die Oberfläche, die Fassade, das, was man nach außen zeigt, aber was nicht unbedingt dem inneren Wesen entspricht“. Die Bedeutungsspanne reicht vom Epithet Gottes العالم بالظاهر والخفي „al-‘âlem biz-zâher w-el-khafi“ „derjenige, der das Sichtbare und das Unsichtbare kennt“, bis zu في الظاهر „fiz- zâher“, „nur nach außen hin, angeblich, scheinbar“. الظاهرة, pl. الظواهر „az-zâhira“ heißt „Anschein, Erscheinung, Symptom, Phänomen“, aber حافظ على الظواهر „hâfez ‘al-az-zawâher“ bedeutet „den Anschein, die Fassade, sein Gesicht wahren“. المظهر pl. المظاهر „al-mazhar“ schließlich meint „die äußere Erscheinung, das Auftreten, den Anblick, den Aspekt“, aber auch „die Fassade, den bloßen Schein“. Die Ägypter bezeichnen mit بتاع المظاهر „bitâ‘ al-mazâher“ oder mit مظرجي „mazargi“ einen Menschen, der prunkt, protzt, angibt und sich nur um den äußeren Anschein kümmert. Erstaunlich, wie all diese Wörter die fließende Grenze aufzeigen, welche zwischen „erscheinen“ und „scheinen“, „anscheinend“ und „scheinbar“, „Erscheinung“ und „bloßem Schein“ bestehen kann.
Dass manchem Ägypter der Schein wichtiger ist als das Sein, bemerken auch wir Fremden, wenn wir lange genug in diesem Land gelebt haben. Alles Verbotene, Verpönte, moralisch Fragwürdige wird praktiziert, unter der Bedingung, dass es unsichtbar bleibt und dass niemand darüber redet. „Wovon man nicht spricht, das ist nicht geschehen“, schreibt die Schriftstellerin Mansura Eseddîn*. Viele von uns könnten Anekdoten über diese Doppelmoral erzählen. Vor der Revolution von 2011 war es sehr schwierig, an exponierten Orten neue Bauten zu errichten. Was tun, um der Bürokratie und einem exorbitantem Bakschisch zu entgehen? Mein Nachbar hatte eine geniale Idee: Er ließ, während die Bauarbeiten vor sich gingen, in voller Lautstärke ein Tonband mit Koranrezitation ertönen. Wer würde einem so frommem Mann auf die Finger schauen und Anzeige erstatten? Wenn vor der Revolution der Präsident bei einem Luxur-Besuch unsere Dörfer passieren musste, begann man Wochen vorher damit, die Fassaden aller Häuser an dieser Strecke weiß zu tünchen. Statt der Realität wurden dem Präsidenten potemkinsche Dörfer präsentiert.
Arbeit am Bau, © Leben in Luxor
Die Lust am Schein macht auch vor der Religion nicht Halt. Wahre Frömmigkeit sollte eine Sache des Herzens sein, eine Angelegenheit zwischen dem Geschöpf الكائن und seinem Schöpfer المكوّن „al-mukawwin“. Ein prächtiger Vollbart und ein Gebetsmal auf der Stirn schließen echte Frömmigkeit zwar nicht aus, können aber auch als Requisiten des bloßen Scheins fungieren.
Zur Wortfamilie ظ ه ر gehört auch das Verb تظاهر „tezâhera“, ägyptisch اتظاهر „itzâher“, das sowohl „demonstrieren“ als auch „so tun als ob, vortäuschen, zur Schau tragen, heucheln, simulieren“ heißt. Das Substantiv المظاهرة, die politische Demonstration, seit dem Januar 2011 in aller Munde, steht also in demselben Zwielicht, das die ganze Wortfamilie kennzeichnet. المتظاهر „al-mitzâher“ kann den Demonstranten meinen, aber auch den Simulanten. Wer in den ersten Monaten der Revolution den Tahrir-Platz besucht hat, war mitgerissen von der Begeisterung der Menschen, die dort für Freiheit und Gerechtigkeit demonstriert und dafür oft ihr Leben geopfert haben. Im weiteren Verlauf des Geschehens aber haben sich dann Leute unter die Demonstranten gemischt, denen Revolution und Freiheit wenig bedeutet, aber die ihre Absichten hinter dieser Fassade versteckt haben. Sich auf die Revolution zu berufen gehörte einfach zum guten Ton oder wurde Mittel für andere, reaktionäre Zwecke. Manche Demonstranten waren Simulanten.
*Anmerkung
Mansura Eseddin: [Anzeige] Hinter dem Paradies, Zürich 2011. Vgl. dazu: Hans Mauritz: Gestohlenes Leben - Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin, in: KEMET 4/2013, S. 73-76
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